Schau "Schöne neue Arbeitswelt": Der Beginn des getakteten Lebens
s:112:"Schornsteine der Thyssen Stahl AG, heute Thyssenkrupp Steel, bestimmen seit 150 Jahren das Bild des Ruhrgebiets.";
Schornsteine der Thyssen Stahl AG, heute Thyssenkrupp Steel, bestimmen seit 150 Jahren das Bild des Ruhrgebiets.
Bonn (epd).

So idyllisch kann Industrialisierung aussehen: Auf dem wandfüllenden Gemälde von Otto Bollhagen schmiegt sich das Bayer-Werk in Leverkusen in die Landschaft, als habe es schon immer dort hingehört. Friedlich erstrecken sich Werkshallen, schmucke Grünanlagen und aufgeräumte Wohnblocks für die Angestellten und Arbeiter entlang des Rheins. Und aus den Schornsteinen kräuseln sich hauchzarte Rauchwölkchen. Vom Schmutz und der Mühsal der Arbeiter ist auf dem 1912 entstandenen Bild nichts zu sehen. Kein Wunder: Denn Bollhagen verdiente sein Geld mit Gemälden im Auftrag großer Unternehmen.

Doch das Bild verdeutlicht, wie stark neue Industrieanlagen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ländliche Regionen veränderten. Dieser Wandel in der modernen Arbeitswelt vor 100 Jahren steht im Mittelpunkt einer neuen Sonderausstellung im LVR-Landesmuseum Bonn. Die Schau „Schöne neue Arbeitswelt. Traum und Trauma der Moderne“ widmet sich der Umbruchphase zwischen 1890 und 1940 aus künstlerischer Perspektive. „Es gibt weder davor noch danach eine Epoche, in der Künstlerinnen und Künstler sich so intensiv mit dem Thema Arbeitswelt beschäftigt haben“, stellt Museumsdirektor Thorsten Valk fest.

Tiefgreifende Veränderung durch Modernisierung der Lebensbereiche

Die Ausstellung präsentiert bis zum 12. April 2026 insgesamt 300 Gemälde, Grafiken, Zeichnungen, Fotografien sowie Objekte aus Alltag, Kunstgewerbe und Technik. Darunter sind Werke von Otto Dix, Hannah Höch, Leo Breuer, August Sander, Albert Renger-Patzsch, Conrad Felixmüller oder Rudolf Jacob Zeller. „Anfang des 20. Jahrhunderts rief die Modernisierung nahezu aller Lebensbereiche ähnlich tiefgreifende Veränderungen hervor wie heute,“ erklärt Valk. Daher lohne der Blick in die Vergangenheit.

Die mit der Industrialisierung verbundenen Umbrüche spiegeln sich nicht nur in den Landschaften, sondern auch in den Gesichtern der Menschen. Die Porträtmalerei erlebte einen Wandel. Seit dem 16. Jahrhundert waren Porträts dem Adel oder wohlhabenden Bürgern vorbehalten, die mit Attributen wie Schmuck oder Kleidung ihren Stand hervorhoben. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts änderte sich das. Anfang des 20. Jahrhunderts zeigt sich das Ansehen einer Person häufig durch Attribute ihres Berufs oder die Arbeitsumgebung. Ein Beispiel ist Hermann Fechenbachs Gemälde des Stuttgarter Zahnarztes Richard Merz im Arztkittel und umgeben von seinen Arbeitsinstrumenten.

Menschen im Fokus, die zuvor nicht als porträtwürdig galten

Zugleich rückten Künstlerinnen und Künstler nun auch Menschen in den Fokus, die zuvor nicht als porträtwürdig galten. Dafür stehen etwa Gemälde wie Leo Breuers „Kohlenmann“ oder Conrad Felixmüllers „Hochofenarbeiter“. Felixmüller hatte ein Stipendium nicht dazu genutzt, nach Italien oder Paris zu reisen, wie es üblich gewesen wäre. Stattdessen besuchte er die Industrieanlagen und Kohlegruben an Rhein und Ruhr.

Neben bekannten Namen entdeckt die Ausstellung auch Werke weiblicher Künstlerinnen wie der Malerin Kate Diehn-Bitt oder der Fotografin Thea Warncke wieder. Eine zu Unrecht weniger bekannte Künstlerin ist auch Sella Hasse, die in der Bonner Ausstellung mit dem eindrucksvollen Holzschnitt-Zyklus „Rhythmus der Arbeit“ (1912-1916) vertreten ist. Wie viele Künstlerinnen und Künstler dieser Zeit thematisiert sie den schnellen Takt der modernen Arbeitswelt. Das Tempo der Maschinen bestimmt plötzlich den Arbeitsalltag. Die Uhr wird zum häufigen Motiv künstlerischer Arbeiten. So in der Fotocollage von Oskar Nerlinger „Schnell noch ein Bissen“: Ein Arbeiter beißt mit Blick auf die Zeiger noch schnell von seinem Brot ab.

Bilder von Ausbeutung und neu gewonnener Freizeit

Den neuen Zeittakt der Arbeit repräsentiert eine um 1920 äußerst fortschrittliche Stechuhr der Baden-Württembergischen Uhrenfabrik Bürk. Sie konnte das Kommen und Gehen von bis zu 200 Personen minutengenau erfassen. Zu den Vorzügen geregelter Arbeitsstunden gehört die neu gewonnene Freizeit. Sport oder ein Badevergnügen am Havelufer, wie es Gustav Wunderwald malte, gehören zu den neuen Freuden. Auf der anderen Seite steht Ausbeutung und die Entfremdung von der Arbeit, wie sie Hannah Höch in ihrem Gemälde „Mensch und Maschine“ darstellt. Und Ende der 1920er Jahre sorgt die Weltwirtschaftskrise für Massenarbeitslosigkeit und Verelendung. Walter Ballhause fotografierte die verzweifelten arbeitssuchenden Menschen.

Viele Künstlerinnen und Künstler dachten die moderne Arbeitswelt weiter und entwarfen vor 100 Jahren Zukunftsszenarien, die heute nah an der Realität erscheinen. So zeichnete Fritz Zielesch 1926 eine Art Videokonferenz, bei der Gesprächspartner aus aller Welt per Kabel mit einem Direktorenschreibtisch verbunden sind. Die Brücke in die Gegenwart schlägt die Ausstellung auch mit mehreren interaktiven Stationen, die Fragen unserer Zeit in den Blick nehmen.

Von Claudia Rometsch (epd)