
„Ich mag die Idee des Verlorenseins“, bekennt Wim Wenders. „Es ist ein Zustand der Glückseligkeit.“ Gewissheiten und Erklärungen sucht das Publikum in seinen Filmen vergebens. Wenders stehe für ein Kino, das keine Antworten bietet, sondern Fragen stelle, erklärt Hans-Peter Reichmann, einer der Kuratoren der großen Wenders-Retrospektive, die vom 1. August bis 11. Januar 2026 in der Bundeskunsthalle zu sehen ist. „Bei ihm ist das Unterwegssein eine Lebensform.“ So sind viele seiner bekannten Filme Roadmovies, in denen die Figuren sich zugleich auf eine innere Suche begeben.
Anlässlich von Wenders' 80. Geburtstag nimmt die Bundeskunsthalle ihr Publikum mit auf eine Reise durch das Gesamtwerk des preisgekrönten Filmemachers und Künstlers. Die Retrospektive „W.I.M. Die Kunst des Sehens“ präsentiert neben Auszügen aus vielen seiner bekannten Filme auch lange nicht mehr gezeigte Frühwerke. Zudem ist bislang unveröffentlichtes Material zu sehen. Hinzu kommen einige von Wenders' großformatigen Farbfotografien, kleinere Fotoarbeiten, Polaroids, Collagen, Zeichnungen und Aquarelle. Biografische und archivalische Dokumente, Film-Requisiten sowie Behind-the-Scenes-Fotomaterial ermöglichen einen Blick hinter die Kulissen.
Die Ausstellung empfängt die Besucherinnen und Besucher mit der ikonischen Szene aus „Der Himmel über Berlin“ (1987) mit Bruno Ganz als Engel Damiel über den Dächern der Stadt. Engel sind eines der Motive, die Wenders' Werk durchziehen. Schon in seiner Jugend zeichnete er sie - inspiriert von Paul Klees „Angelus Novus“. Mit frühen Zeichnungen und Aquarellen führt die Ausstellung zunächst an die Wurzeln von Wenders' künstlerischem Schaffen. „Ich wollte Maler werden. Ich liebte Bilder mehr als alles andere“, bekennt er.
Am 14. August 1945 in Düsseldorf geboren sei die Kunst für ihn eine Gegenwelt zu der zerbombten Stadt gewesen, sagt Wenders. Doch nachdem er ein Jahr in Paris an seiner Künstlerkarriere gebastelt hatte, zog es ihn 1967 an die neugegründete Hochschule für Film und Fernsehen in München. Er betrachte „Film als Fortführung der Malerei mit anderen Mitteln“, erklärt Wenders. Die bildende Kunst zieht sich folglich als Thema durch sein gesamtes filmisches Schaffen und beeinflusst seine Bildsprache.
Vor allem der US-Maler Edward Hopper (1882-1967), der in seinen realistischen Gemälden von der Einsamkeit des Menschen in der modernen Welt erzählt, schult Wenders' Auge. Er widmete ihm 2020 den 3D-Kurzfilm „Two or three things I know about Edward Hopper“, der in einem 3D-Kino innerhalb der Ausstellung zu sehen ist. Als Dokumentarfilmer drehte er auch Filmporträts über andere Künstler wie die Französin Claudine Drai und vor zwei Jahren über den Maler und Bildhauer Anselm Kiefer.
Wenders' Werk verschränkt sich auch mit Musik und Literatur. So sind die Soundtracks seiner Filme weit mehr als Hintergrundmusik. Schon für seine Abschlussarbeit an der Filmhochschule „Summer in the city“ übernimmt er einen Song der Band „Lovin' Spoonful“ und widmet den Film der Band „The Kinks“. „Paris, Texas“ (1984), für den Wenders die Goldene Palme von Cannes erhielt, ist untrennbar verbunden mit den Gitarrenklängen des US-Komponisten Ry Cooder. Später macht er Musiker auch zum Gegenstand seiner Filme, etwa die Kölsch-Rockband BAP. Für „Buena Vista Social Club“, eine Dokumentation über den kubanischen Musikstil „Son“, erhielt er eine Oscar-Nominierung sowie den Europäischen Filmpreis.
Der Roadmovie gilt jedoch als das am engsten mit Wenders' Namen verbundene Genre. Statt mit einem vorgefertigten Drehbuch zu arbeiten, entwickelt er seine Filme oft entlang einer Reiseroute. So etwa in der Trilogie „Alice in den Städten“, „Falsche Bewegung“ und „Im Lauf der Zeit“ sowie Anfang der 1990er Jahre in „Bis ans Ende der Welt“. Die Routen führen durch verschiedene Länder und Kontinente.
Mit zwei Ländern setzte sich Wenders besonders auseinander: In den USA, wo er insgesamt 16 Jahre lang lebte, drehte er zahlreiche Filme. Unter anderem „Land of plenty“, der sich mit den gesellschaftlichen Folgen des Terroranschlags auf das New Yorker World Trade Center auseinandersetzt. Auch die japanische Kultur fasziniert Wenders immer wieder. Dort entstand unter anderem „Perfect Days“ (2023), ein für den Oscar nominierter Film über einen Toilettenreiniger in Tokio.
Für die Bonner Ausstellung konzipierte Wenders eigens eine Rauminstallation, die mithilfe digitaler Bild- und Soundtechnik das Eintauchen in sein filmisches Werk erlauben soll. Wenders hat zudem selbst einen Audioguide eingesprochen, der durch die Ausstellung führt und an verschiedenen Stationen Hintergrundgeschichten erzählt.