Reichspogromnacht: Todesursache Arterienverkalkung
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Ausstellung zeigt Ausmasse der Pogrome von 1938 in Rheinland-Pfalz
Ausstellung gibt Todesopfern aus Rheinland-Pfalz ein Gesicht
Osthofen, Saarbrücken (epd).

Selbst vor kleinen Ortschaften wie Rhaunen im Hunsrück machten die judenfeindlichen Ausschreitungen im November 1938 nicht Halt. Dort legte ein Mob das Wohnhaus der jüdischen Familie Grünewald und ihr Schuhgeschäft in Schutt und Asche. Der in „Schutzhaft“ genommene Julius Grünewald erlitt bei der Rückkehr zu seiner Mutter und Schwester, die bei dem Überfall schwer misshandelt worden waren, einen Nervenzusammenbruch und landete in in einer Heilanstalt, wo er sich das Leben nahm. Der Hunsrücker ist einer von 74 namentlich identifizierten Opfern im Zusammenhang mit dem Pogrom auf dem Gebiet der heutigen Länder Rheinland-Pfalz und Saarland.

Brennende Synagogen, verwüstete jüdische Geschäfte und überall die Scherben eingeworfener Scheiben - lange Zeit hatte sich für die organisierten Pogrome im November 1938 der Begriff „Reichskristallnacht“ eingebürgert. Dabei sei aus dem Blick geraten, wie viele Menschen schon damals den Rassenwahn der Nationalsozialisten mit dem Leben bezahlt hätten, sagt die Historikerin Ulrike Holdt von der KZ-Gedenkstätte in Osthofen bei Worms.

Wie viele es genau waren, wollte die Landeszentrale für politische Bildung ermitteln und stieß eine Studie zu den Ereignissen in den heutigen Bundesländer Rheinland-Pfalz und Saarland an. Über die Ergebnisse der zweijährigen Recherche informiert seit Mittwochabend eine Ausstellung in der Gedenkstätte Osthofen. „Wir haben dabei viele Fälle gefunden, die bislang unbekannt waren“, sagte Holdt. Dazu habe beigetragen, dass auch Standesamts-Register nach jüdischen Verstorbenen in der Zeit unmittelbar nach den Pogromen durchsucht wurden. Oft wurden bei den Opfern falsche Todesursachen angeben.

Die geschah beispielsweise im Fall von Salomon Wolff aus dem Winzerort Böchingen. Obwohl Zeugen den Südpfälzer Juden blutüberströmt am Boden liegen gesehen hatten, war als Todesursache von „Arterienverkalkung“ die Rede.

Unter den 74 identifizierten Pogromopfern kamen 30 unmittelbar während der Überfälle auf jüdische Einrichtungen und Wohnungen ums Leben. 21 Suizide wie bei Julius Grünewald werden unmittelbar mit den Erlebnissen der Pogromnacht in Verbindung gebracht. 23 weitere Todesfälle stehen im engen zeitlichen Zusammenhang mit der KZ-Haft von Juden in den Monaten nach dem November 1938. Bei rund 90 Personen gelang es vorerst nicht, abschließend zu klären, ob sie eines natürlichen Todes starben.

Ulrike Holdts Worten zufolge waren überdurchschnittlich viele ältere Menschen Opfer der Attacken, für sie ein Beleg dafür, dass viele jüngere Juden das Land bis zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen hatten. Die zusammengetragenen Fakten zur sogenannten Reichspogromnacht zeigen auch weitere verstörende Details - etwa den Umstand, dass sich mancherorts sogar Schulkinder an den Misshandlungen an ihren jüdischen Nachbarn beteiligten und dass es auch zu Gruppenvergewaltigungen kam. Die spätere Aufarbeitung der Verbrechen sei kaum gelungen. „Es hat tatsächlich Verfahren nach dem Krieg gegeben“, berichtet die Historikerin. Meist hätten dabei aber die Beweise gegen die Beschuldigten nicht ausgereicht. Dort, wo wie im rheinhessischen Oppenheim Täter tatsächlich verurteilt wurden, fiel die Strafe so gering aus, dass sie mit der Interniernung nach Kriegsende als abgegolten betrachtet wurde.

Von Karsten Packeiser