
Die Caritas blickt wohlwollend auf den Koalitionsvertrag. „Das Thema der sozialen Sicherheit wird mit ähnlicher Bedeutung versehen wie die äußere und innere Sicherheit“, sagt Caritaspräsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa im Interview mit epd sozial. Auch der Zuschnitt der Ministerien und die Auswahl der Ministerinnen und Minister kommt gut an.
Berlin (epd). Die Pläne der Koalition für das Soziale klingen gut, sagt Caritaschefin Eva Maria Welskop-Deffaa: „Jetzt geht es darum, dass das auch im konkreten Regierungshandeln mit Leben gefüllt wird.“ Und viel Arbeit warte auf die neue Regierung, nicht zuletzt in den Bereichen Kinderarmut und Pflege. „Wir machen gerne konkrete Vorschläge, wie sich Reformen ausgestalten lassen.“ Die Fragen stellte Christina Neuhaus.
epd sozial: Frau Welskop-Deffaa, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie den Koalitionsvertrag gelesen haben?
Eva Maria Welskop-Deffaa: Ich habe den Eindruck gewonnen, dass im Koalitionsvertrag das Thema der sozialen Sicherheit mit ähnlicher Bedeutung versehen wird wie die äußere und innere Sicherheit. Das erkennt man nicht, wenn man auf die Überschriften schaut, dafür muss man ihn schon ganz lesen. Aber dann finden sich an vielen Stellen sehr klare Hinweise darauf, dass die Bedeutung der sozialen Themen erkannt wird, dass sie auch als gleichrangig erkannt wird. Und das war für mich eine große Erleichterung, weil der Wahlkampf die Sorge hatte aufkommen lassen, dass diese Dimension vernachlässigt wird. Jetzt geht es darum, dass das dann auch im konkreten Regierungshandeln mit Leben gefüllt wird.
epd: Was ist dafür wichtig?
Welskop-Deffaa: Ich vertraue darauf, dass die Aussage, man wolle ressortübergreifend zusammenarbeite, wirklich ernst gemeint ist. Zum Beispiel müssen Klima, Energie und Verkehrspolitik zusammengedacht werden, um soziale Klimapolitik zu machen. Es gibt im Koalitionsvertrag nur wenige Sätze, die das schon jetzt erkennbar machen. Aber es gibt sie, und wir machen gerne konkrete Vorschläge, wie sich das ausgestalten lässt.
epd: Die ressortübergreifende Zusammenarbeit hängt ja auch vom Personal ab. Was sagen Sie dazu?
Welskop-Deffaa: Ich habe schon den Eindruck, dass hier ausreichend auf Regierungserfahrung geachtet wurde. Das finde ich sehr gut. In solch einer schwierigen Zeit schnell ins Handeln zu kommen, setzt voraus, dass man die Spielregeln nicht erst von der Pike auf neu lernen muss, sondern dass man auch weiß, wie so ein Ministerium geführt werden will. Da schauen wir natürlich als Wohlfahrtsverband sehr stark auf das Familienministerium, das jetzt zu einem Ministerium für Familie und Bildung erweitert wird. Mit Karin Prien soll das eine erfahrene Landesministerin übernehmen, die durch ihre bisherige Position genau weiß, wie wichtig es ist, die institutionellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Teilhabe auch möglich wird. Ich bin sicher, sie wird den Kitas Aufmerksamkeit schenken, sie wird den Strukturen der Ganztagsbetreuung Aufmerksamkeit schenken.
epd: Ihnen gefällt also der neue Zuschnitt des Ministeriums?
Welskop-Deffaa: Man kann keine Bildungspolitik machen, ohne die Lebenswirklichkeit der Familien ernst zu nehmen. Bei der Zuordnung der Bildungspolitik zum Forschungsministerium ging es immer eher um Bildungskarrieren. Jetzt schaut man hoffentlich stärker darauf, wie sich familiäre und soziale Lebenswirklichkeiten mit den institutionellen Angeboten verzahnen. Das kann meiner Ansicht nach nur von Vorteil sein, weil wir doch immer wieder merken, dass es noch nicht gut gelingt, den Kindern aus Familien mit Belastungen durch das schulische Angebot wirklich Anschlüsse zu sichern, Zugänge zu öffnen. Und das geht auch nur, wenn man beides gemeinsam anschaut. Wenn die Schule am Ende Dinge voraussetzt in der Familie, die die Familie nicht leisten kann, nützt ja das schönste schulische Angebot nichts. Und wenn Kindertageseinrichtungen nicht wirklich verlässlich sind, dann nützt eine Ganztagsbetreuung auf dem Papier auch gar nichts.
epd: Was halten Sie davon, dass es künftig eine Staatsministerin für Sport und Ehrenamt gibt?
Welskop-Deffaa: Wir hoffen sehr, dass die designierte Staatssekretärin Christiane Schenderlein dem Ehrenamt gebührende Aufmerksamkeit schenken wird und es nicht nur um den Sport geht. Der Sport lebt auch vom Ehrenamt, das wissen wir. Aber das soziale Ehrenamt ist für die aktuellen Herausforderungen auch besonders wichtig. Deshalb wäre es gut, wenn das vom Kanzleramt aus gezielt in den Blick genommen würde. Zum Beispiel die Frage, wie wir die Freiwilligendienste im Kontext einer Pflichtdienstdebatte, im Kontext einer Wehrdienstdebatte so stärken können, dass sie das freiwillige Engagement nachhaltig unterstützen. Wichtig ist auch, das Zusammenspiel von Professionellen und Ehrenamtlichen in der Pflege zu stärken.
epd: Die Pflege ist ohnehin eine große Baustelle. Was halten Sie von dem Plan, eine Reformkommission einzusetzen?
Welskop-Deffaa: Grundsätzlich glaube ich, es ist gut, nicht in Aktionismus zu verfallen, sondern in Ruhe zu schauen, wie die verschiedenen Einzelthemen in einer logischen Folge bearbeitet werden können. Aber es wäre vermutlich richtiger gewesen, nicht von einer 'großen Reform', sondern von 'großen Anstrengungen' zu sprechen. Es geht darum, mit einem gewissen Maß an Tatkraft, aber auch mit langem Atem, strategisch klug eine Baustelle nach der anderen so abzuarbeiten, dass das, was man am Anfang regelt, zu dem passt, was man dann vielleicht erst in ein oder zwei Jahren anpassen kann. Klar ist jedenfalls: Es gibt ganz dringenden Handlungsbedarf. Die Pflegeversicherung ist ernsthaft in Finanzierungsproblemen. Die neue Gesundheitsministerin Nina Warken wird ganz erhebliche Kraftanstrengungen brauchen, um die dringenden Themen schnell anzugehen, ohne dass sie sich auf konkrete Verabredungen im Koalitionsvertrag beziehen kann. Und bei den sozialpolitischen Kommissionen fordern wir natürlich ein, dass die Expertise der Wohlfahrtsverbände genutzt wird.
epd: Wie machen sich die Probleme bei Ihnen als Pflegeanbieter bemerkbar?
Welskop-Deffaa: Unsere Pflegeeinrichtungen klagen in großer Zahl darüber, dass Zahlungen nicht mehr zeitnah erfolgen, sodass auch da echte Liquiditätsprobleme entstehen, wenn die Sozialämter zu spät zahlen. Das kann sich durchaus zu Insolvenzen auswachsen. Außerdem sagen mir die Fachkolleginnen und -kollegen, dass wir es zunehmend mit Pflegebedürftigen zu tun haben, auf die die Pflegeeinrichtungen eigentlich nicht eingestellt sind. Das sind zum einen Menschen, die letztlich zum Sterben in die Einrichtung kommen und die trotzdem eine langwierige und komplizierte Ausnahmeprozedur absolvieren müssen. Und zum anderen gibt es einen ganz großen Bedarf bei den schwer demenziell Erkrankten. Die sind teils sehr lange in den Einrichtungen und haben sehr spezielle Bedürfnisse. Für beide Fälle waren Pflegeheime ursprünglich nicht konzipiert - das verursacht viele neue Herausforderungen.
epd: Wie blicken Sie auf die geplanten Änderungen beim Bürgergeld?
Welskop-Deffaa: Die Aussage, dass Bürgergeldbeziehende, die arbeiten können, stärker sanktioniert werden sollen, war erwartbar. Man sollte aber nicht überlesen, dass im Koalitionsvertrag ganz klar steht, dass für diejenigen, die aufgrund von Vermittlungshemmnissen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben, durch Qualifizierung und bessere Gesundheitsförderung eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt gesichert werden soll. Wir kennen aus unserer Arbeit die vielen Menschen, die ohne Unterstützung keine Chance haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt zurechtzukommen, zum Beispiel wegen schwerer Krankheit, Behinderung, besonderer Belastung im familiären Umfeld. Dass explizit gesagt wird, dass diese Menschen mehr Unterstützung bekommen sollen, gefällt mir sehr. Und ich hoffe, dass das jetzt auch endlich dieses herabwürdigende Reden über die Leistungsempfänger beendet. Diese groben Polarisierungen aus dem Wahlkampf müssen jetzt überwunden werden. Die helfen nämlich nicht, wenn es darum geht, Menschen zu ermächtigen und zu ermutigen, dass sie es schaffen können, wenn sie die Unterstützung annehmen, die das System für sie bereithält.
epd: Das Thema Armut nimmt im Koalitionsvertrag wenig Raum ein. Ist das ein Problem?
Welskop-Deffaa: Ich empfinde es schon so, dass sich im Koalitionsvertrag durchaus eine Aufmerksamkeit findet dafür, dass Menschen sich damit schwertun können, ihre eigene Existenz durch Erwerbsarbeit zu sichern. Man muss genau hinschauen. Zum Beispiel sollen Geflüchtete früher als bisher arbeiten dürfen. Das ist gut. Ich hoffe auch, dass es endlich gelingt, die Ankündigung wahrzumachen, dass Selbstständige in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen sollen. Hier geht es um handfeste Altersarmut von Menschen, die teilweise abhängig beschäftigt sind und teilweise selbstständig arbeiten. Die arbeiten ihr ganzes Leben lang, aber weil nur von der abhängigen Arbeit Rentenbeiträge gezahlt werden, sind sie dann im Alter auf Grundsicherung angewiesen. Was Kinderarmut angeht, so steht im Koalitionsvertrag explizit drin, dass sie bekämpft werden soll. Hier freuen wir uns auf konkrete Vorschläge.