
Das Ende der Ampelkoalition bedeutet das endgültige Aus für die Kindergrundsicherung. Der Koalitionsvertrag des neuen schwarz-roten Zweckbündnisses hat ambivalente Folgen für Kinder und Familien in Armut, prognostiziert Professorin Sabina Schutter, die Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf.
Nach dem Ende der Ampelkoalition blicken wir auf eine selbsternannte Fortschrittskoalition zurück, die im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik tatsächlich einige historische Vorhaben adressiert hatte. Eines davon war der Paradigmenwechsel in der Bekämpfung von Kinderarmut: Mit der seit vielen Jahren geforderten Kindergrundsicherung sollte endlich eine unbürokratische Existenzsicherung für alle Kinder erreicht werden. Kinder sollten raus aus dem SGB II, das Existenzminimum sollte neu berechnet und die steuerliche Berücksichtigung von Kindern anstelle einer Kindergeldzahlung beendet werden.
Viele, die sich seit Jahren für benachteiligte junge Meschen einsetzen, hofften endlich auf eine nachhaltige Lösung für die drei Millionen von Armut bedrohten Kinder in Deutschland. Leider vergeblich: Im Verlauf der Regierungszeit schrumpfte die Kindergrundsicherung stetig, erst in ihren Ansprüchen, dann im finanziellen Volumen und letztlich verschwand sie im Chaos der letzten Ampelmonate und angesichts von außen- und sicherheitspolitischen Krisen gänzlich.
Schärferer Ton gegenüber Armen
Im Koalitionsvertrag findet sich nun ein neuer, leider ambivalenterer Zugang zu Armut. Während Kinderarmut weiterhin bekämpft werden soll, ist der Ton gegenüber Menschen in Armut ein deutlich schärferer. Union und SPD lassen eine harte Haltung gegenüber denen erkennen, die nach ihrer Auffassung arbeiten könnten, es aber nicht wollen. So heißt es bei „Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.“
Unabhängig von der empirischen Tatsache, dass die Gruppe dieser angeblich Unwilligen abseits von Boulevardschlagzeilen und TV-Talkshows empirisch kaum abbildbar ist, fehlt hier auch der entscheidende Zusammenhang: Ein solcher Leistungsentzug kann und wird in vielen Fällen auch Familien und somit Kinder treffen. Wo bleibt die Sensibilität dafür, dass viele erwerbslose Menschen eben auch Eltern sind? Familienarmut ist immer auch Kinderarmut. Familienarmut bedeutet immer mangelnde Teilhabe und mangelnde Bildungschancen für junge Menschen, die in armen Familien aufwachsen und von diesen harten Maßnahmen unmittelbar und unverschuldet mitbetroffen sind.
Kinderarmut wird an einigen Stellen des neuen Koalitionsvertrags benannt. Einige gute Ansätze, wie die Weiterentwicklung des Kinderzuschlags oder die Verbesserungen für Alleinerziehende, sind erkennbar. Auch das Bildungs- und Teilhabepaket soll erhöht, digitalisiert und vereinfacht werden. Ein kostenfreies Schul-Mittagessen für Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familie und eine Teilhabe-App sollen ermöglichen, dass Kinder möglichst viele Leistungen erhalten. Für eine nachhaltige Reduzierung der Kinderarmut ist das aber bei Weitem nicht ausreichend. An einer Neuberechnung des kindlichen Existenzminimums führt kein Weg vorbei.
Mehrdimensionalität von Kinderarmut
Deutlich wird, dass die Mehrdimensionalität von Kinderarmut von Union und SPD in den Blick genommen wird. Im Fokus stehen Bildungsarmut und Entwicklungsverzögerungen, die frühzeitig adressiert werden sollen. Der Plan, flächendeckend alle vierjährigen Kinder zu testen und bei Entwicklungsverzögerungen verpflichtende Maßnahmen vorzuschreiben, ist aus Empirie und Praxis heraus kritisch zu sehen.
Empirisch gibt es bisher wenig Hinweise darauf, dass Eltern durch eine solche Pflicht überhaupt erreicht oder Änderungen im Sinne des Kindes herbeigeführt werden. Entwicklungsverzögerungen sind in der Regel nicht dem Unwillen der Eltern geschuldet, ihr Kind zu fördern. Oftmals fehlt es schlicht an Informationen über Fördermöglichkeiten oder Eltern scheitern an den hohen Zugangshürden. Die Erfahrung in unseren niedrigschwelligen Hilfsangeboten zeigt, dass mit Verständnis und konkreter Hilfe vieles erreicht werden kann. Hier wäre aus Praxissicht ein besserer Ansatzpunkt, um frühzeitige Förderung für alle Kinder zu ermöglichen.
Ambivalentes Gesamtergebnis
In der Zusammenschau entsteht also ein ambivalentes Bild zu Armut, das die neue Koalition zeichnet. Wohlmeinend steht „fördern und fordern“ im Fokus. Eine andere Lesart könnte lauten: Hier geht es um „Überwachen und Strafen“.
Konkret entsteht einerseits das Bild eines Sozialstaates, der bewertet, verpflichtet und sanktioniert - etwa, wenn von „Sozialleistungsmissbrauch im Inland sowie durch im Ausland lebende Menschen“ gesprochen wird. Auf der anderen Seite sind unbürokratische Sozialleistungen zu erkennen, die darauf abzielen, das Leben von Familien und Kindern in Armut zu erleichtern und ihnen den Zugang zu Leistungen zu vereinfachen.
Und genau in dieser Ambivalenz liegt ein Problem: Zielsetzungen vermischen sich und wirken im schlimmsten Fall gegenläufig. Wie soll eine „arbeitsunwillige Alleinerziehende“, der alle Leistungen gestrichen werden, noch motiviert werden, verpflichtende Unterstützung für ihr Kind in Anspruch zu nehmen? Wie sieht die Abschaffung der Karenzzeit aus, wenn eine fünfköpfige Familie ins SGB II fällt und sofort umziehen soll, weil ihre Wohnung zu teuer ist? Viele Familien in Armut erleben mehrfache Belastungen, das können Krankheiten oder psychische Belastungen sein, Verantwortung für zu pflegende Angehörige, Sprach- und Informationsdefizite oder schlicht Ängste vor einer Behörde, die in erster Linie als kontrollierend wahrgenommen wird. Hier gilt es anzusetzen.
Erst die konkrete Umsetzung des Koalitionsvertrags wird zeigen, welcher Schwerpunkt für Familien und ihre Kinder in der Sozialpolitik gewählt wird.