Armutskonferenz: Staatliche Hilfen aus einer Hand anbieten
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Michael David

Die Nationale Armutskonferenz (NAK) blickt wenig euphorisch auf die künftige Politik gegen soziale Ausgrenzung. Sie vermisst konkrete Aussagen im Koalitionsvertrag. „Das alles ist noch recht unentschlossen“, sagt Michael David, Mitglied im Koordinierungskreis der NAK, im Interview mit epd sozial.

Berlin (epd). Michael David, Zentrumsleiter Soziales und Beteiligung bei der Diakonie Deutschland, sagte, es gebe zwar einige Prüfaufträge, „aber Koalitionsverträge haben es so an sich, nur eine Grundlage zu legen. Es ist also offen, was bei möglichen Prüfungen herauskommt und dann auch umgesetzt wird“. Gleichwohl müsse es das Ziel der Regierung sein, staatliche Hilfen aus einer Hand anzubieten. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Im Koalitionsvertrag der neuen Regierung finden sich nur wenige Sätze zum Thema Kinderarmut. Dämpft das die Erwartungen der Nationalen Armutskonferenz auf diesem sozialpolitischen Feld?

Michael David: Zunächst mal ist natürlich klar, dass es keine Kindergrundsicherung geben wird, obwohl vieles dafür gesprochen hat. Aber immerhin erwähnt der Koalitionsvertrag von Union und SPD das Ziel der neuen Regierung, die Kinderarmut zu bekämpfen. Und fest steht auch, dass das Geld im Bildungs- und Teilhabepaket um 5 auf 20 Euro angehoben wird.

epd: Aber wird dieses Geld künftig besser ankommen? Es gibt ja schon lange die Kritik, dass die Antragsverfahren sehr kompliziert sind.

David: Genau das ist das Problem. Die bestehenden familienpolitischen Leistungen sind im Antragsverfahren noch immer sehr bürokratisch. Man muss vier, fünf, sechs verschiedene Anträge auf verschiedene, sich ergänzende Leistungen stellen, damit das Existenzminimum samt dem der Kinder abgedeckt wird. Es wird viel hin- und hergerechnet, es gibt unterschiedliche Fristen, in denen das passieren muss. Die Folge ist, dass das viele Leute gar nicht hinbekommen. So nehmen zum Beispiel nur 50 Prozent der Berechtigten den ihnen zustehenden Kinderzuschlag überhaupt in Anspruch. Das hat man wohl jetzt erkannt, und so klingt im Koalitionsvertrag zumindest an, dass man das anders organisieren will.

epd: Wie könnte das besser und vor allem unbürokratischer geregelt werden?

David: Den Betroffenen würde es schon sehr helfen, wenn sie nur einen Antrag stellen müssten, um ihre Ansprüche prüfen zu lassen. Die Ämter untereinander müssten das klären, könnten die Leistungen prüfen und auch untereinander verrechnen. Am Ende stünde dann ein Bescheid, aus dem hervorgeht, wie viel Geld tatsächlich auszuzahlen ist. Da könnte dann auch drinstehen, welche Teilsummen von welcher Behörde kommen. So wäre das alles gut nachzuvollziehen und das bürokratische Kuddelmuddel hätte ein Ende.

epd: Der Koalitionsvertrag deutet nur knapp an, was anders laufen soll.

David: Ja, dort heißt es wörtlich nur: „Viele soziale Leistungen sind unzureichend aufeinander abgestimmt. Wir wollen Leistungen zusammenfassen und besser aufeinander abstimmen, etwa durch die Zusammenführung von Wohngeld und Kinderzuschlag.“ Aber präziser werden die Koalitionäre nicht, das ist noch recht unentschlossen. Dabei sollte es ja weiterhin das Ziel sein, Hilfen aus einer Hand zu ermöglichen.

epd: Wird es grundlegende Korrekturen geben, um das zu erreichen?

David: Ich bin da nicht sehr optimistisch. Es gibt zwar einige Prüfaufträge, aber Koalitionsverträge haben es so an sich, nur eine Grundlage zu legen. Doch entscheidend ist, was tatsächlich verwirklicht wird. Es ist also offen, was bei möglichen Prüfungen herauskommt und dann auch umgesetzt wird. Dabei gibt es schon einige Stellschrauben, an denen man relativ einfach ansetzen könnte.

epd: Welche sind das?

David: Zum Beispiel die automatische Auszahlung des Kindergelds, die auch als Idee im Koalitionsvertrag steht. Aber es ist unklar, ob auf dieser Basis die Antragsverfahren wirklich unkompliziert gestaltet werden. Die Rede ist auch von einer Teilhabe-App, die den Leistungsbezug vereinfachen soll. Gedacht ist hier an verschiedene Freizeitangebote vor Ort. Doch ob dieser Weg der Digitalisierung wirklich was bringt, ist mehr als fraglich.

epd: Warum haben Sie Zweifel?

David: Diese Idee hatte 2010 schon Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU). Damals gab es ein ewig langes Prüfverfahren, und dann kam die Digitalisierung nicht, weil man sie für nicht umsetzbar hielt. Stattdessen hat die Regierung das Bildungs- und Teilhabepaket eingeführt. Die Bedenken von damals gelten noch heute.

epd: Wo liegen denn die Probleme einer solchen App in der Praxis?

David: Schauen wir, um das zu erklären, beispielhaft nach Berlin. Hier gibt es mehrere Bezirke mit unterschiedlichen Zuständigkeiten für diese Hilfeleistungen. Es müssten also alle Anbieter bis hin zum letzten Sportverein ihre Daten in ein zentrales Portal einpflegen, wodurch dann auf diese App zugegriffen werden kann. Aus meiner Sicht ist das total unrealistisch, zumal das in den allermeisten Vereinen, die Angebote für Kinder und Jugendliche machen, ehrenamtlich erledigt werden müsste. Deshalb haben wir schon damals bei der Einführung des komplizierten Bildungs- und Teilhabepakets gesagt, dass es viel einfacher ist, das Geld in die Hand zu nehmen, und den Familien direkt für Aktivitäten im Sportverein oder für die Kultur auszuzahlen. Eine App ist viel zu kompliziert, das wird nicht funktionieren. Das ist schon einmal geprüft worden, das bringt nichts.

epd: Kommen wir zu den Debatten über die Höhe des Existenzminimums und des Regelsatzes in der Grundsicherung. Sehen Sie das auch so, dass hier dringend nach oben korrigiert werden müsste?

David: Zunächst käme es darauf an zu klären, dass der Staat transparent und nachvollziehbar handelt, wie und auf welcher Grundlage er Bedürftige unterstützt. Und das passiert nicht. Wir haben zur Berechnung derzeit eine Mischung aus Statistikmodell und Warenkorb. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wie man zu den Zahlen kommt. Das schafft kein Vertrauen in den Sozialstaat.

epd: Was wäre der bessere Ansatz?

David: Ein reines Statistikmodell wäre die klarere Grundlage. Das fordert auch die Sozialforscherin Irene Becker, die auch für die Diakonie schon mehrere Gutachten vorgelegt hat. Sie plädiert für ein reines Statistikmodell. Wenn der Gesetzgeber einen Abstand haben will bei den Leistungen, die Hilfebezieher im Vergleich zum Rest der Bevölkerung bekommen, dann muss man die statistische Mitte und eine Vergleichsgruppe definieren. Es kommt darauf an, in welcher Schichtung man die adäquate Vergleichsgruppe findet, und dass deren Ausgaben sauber ermittelt werden. Und dann muss die Politik klären, wie groß denn der Abstand maximal sein. Etwa bei Nahrungsmitteln oder Freizeitausgaben. Das muss man offen diskutieren.

epd: Höhere Leistungen müssen auch bezahlt werden.

David: Ja. Aber das ist erst der nächste Schritt. Mir geht es darum klarzustellen, dass es derzeit an der Objektivität der Berechnungen fehlt. Man tut so, als sei das alles sauber definiert, doch das ist nicht so. Was man daran sehen kann, dass nach Berechnungen von Sozialverbänden der Regelsatz mindestens 200 bis 300 Euro höher sein müsste, wenn auf der jetzigen Rechengrundlage das Statistikmodell durchgehalten würde. Das will man aber nicht, deshalb wird willkürlich gestrichen: die halbe Kinokarte und das Futter für das Meerschweinchen. Besser ist es, dann offen über Abstände zu diskutieren, statt das durch die Hintertür zurechtzuwurschteln.

epd: Wie würde denn der Regelsatz aussehen, wenn man Irene Becker folgt?

David: Das kann man so nicht genau sagen, denn es kommt darauf an, wie viel Abstand man zwischen Transferleistungen und gesellschaftlicher Mitte lassen will. Da gibt es verschiedene Szenarien. Lässt man demnach einen Abstand von 20 Prozent bei Ernährung und Kleidung und 40 Prozent etwa bei Büchern, Freizeitgestaltung und Mobilität, dann würde der Regelsatz mindestens 150 Euro höher liegen. Das ist dringend nötig, wenn man die Realkosten betrachtet. Es gibt massive Kaufkraftverluste bei den Hilfeempfängern. Viele kommen schlicht nicht mehr klar, können sich nicht mehr gesund ernähren.

epd: Kann man dieses Problem überhaupt dauerhaft lösen, wenn man nicht zu einer anderen Form der Regelsatzberechnung kommt, von der im Koalitionsvertrag ja nichts steht?

David: Selbst wenn die neue Regierung die Berechnungen nicht verändert, gibt es schon Wege, wie man die Lage der Betroffenen verbessern kann. Es geht darum, denjenigen, denen Leistungen zustehen, sie auch zukommen zu lassen. Im Bereich der Grundsicherung sind es über ein Drittel, die Hilfen trotz eines Anspruchs nicht nutzen, und bei der Grundsicherung im Alter sind es noch mehr.

epd: Was ist also zu tun?

David: Man muss die Antragsverfahren endlich wesentlich vereinfachen. Auch das wahnsinnig komplizierte System der Anrechnung von Zuverdiensten muss reformiert werden. Und schließlich muss die Arbeitsförderung wieder verbessert werden. Die Integration in den Arbeitsmarkt muss wieder zentral werden. Es gab unter der Ampel-Regierung das erfolgreiche Programm „Teilhabe durch Arbeit“. Das ist dann in der Haushaltssperre durch Finanzminister Christian Lindner (FDP) gestoppt worden. Wir brauchen ein klares Bekenntnis zur Arbeitsförderung. Es braucht eben Angebote für ausreichend bezahlte Jobs, und die muss man dauerhaft finanzieren. Das ist viel wichtiger, als unnötige Debatten über Sanktionen für Arbeitsunwillige zu führen.