Reproduktive Selbstbestimmung, Lebensschutz und Strafrecht. Die neue Diskussion um § 218 StGB als Herausforderung für die evangelische Kirche
Editorial der epd-Dokumentation 36/22

So einzigartig wie die Lebenssituation während einer Schwangerschaft ist, so einzigartig ist auch die derzeitige Rechtslage bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs: Rechtswidrig, aber (unter bestimmten Bedingungen) straffrei. 

§ 218 StGB blickt auf eine 150- jährige Geschichte zurück. Nicht unverändert und unumstritten; gesellschaftliche Entwicklungen spielten immer wieder eine große Rolle für die (Neu)Verständigung über Erlaubtes und Verbotenes, rechtlich wie auch ethisch. 

Die derzeitige rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland entstand nach der Wiedervereinigung. Rita Süßmuth, die damals wesentlich an den Bemühungen um eine Reform des § 218 StGB beteiligt war, die dem Schutz des ungeborenen Lebens und dem Selbstbestimmungsrecht der Frau gleichermaßen gerecht wird, hat im Rückblick deutlich gemacht, dass mit der Regelung von 1995 nicht der Anspruch verbunden war, den Konflikt endgültig gelöst zu haben: »Wir wollten den Konflikt enttabuisieren, die Gewissensentscheidung der Betroffenen unter Einschluss von Beratung und Hilfen respektieren, ohne zu behaupten, wir hätten den Schwangerschaftskonflikt aus der Welt geschafft.«( Grußwort zum Fachkongress »150 Jahre § 218«, 27./28. August 2021 (als Video: https://www.150jahre218.de/programm) 

Nach knapp 30 Jahren stehen wir nun erneut vor bzw. in der Debatte: Wird der gesellschaftliche Umgang und die aktuelle Rechtslage Frauen, die ungewollt schwanger sind, und dem ungeborenen Leben (noch) gerecht? 

Die medizinische Versorgungssituation für Frauen, die einen Abbruch vornehmen lassen wollen, hat sich in den vergangenen Jahren signifikant verschlechtert. Aktivistinnen beklagen, dass die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zur Stigmatisierung der Betroffenen beiträgt. Die strafrechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs wird daher zunehmend hinterfragt. Die neue Regierung hat angekündigt, eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin einzusetzen, die (unter anderem) Regulierungen des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuches prüfen soll. Was das für den Schutz des ungeborenen Lebens – auch in anderen Bereichen der Rechtsordnung – bedeutet, ist aktuell noch offen. 

Vor diesem Hintergrund haben die Evangelische Kirche in Deutschland und das Zentrum für Gesundheitsethik an der Evangelischen Akademie Loccum gemeinsam eine Tagung »Reproduktive Selbstbestimmung, Lebensschutz und Strafrecht. Die neue Diskussion um § 218 StGB als Herausforderung für die evangelische Kirche« organisiert, die am 15. Juni 2022 als Online- Veranstaltung stattgefunden hat. Die Tagung hatte vor allem ein Ziel: den Diskurs über aktuelle Fragen innerhalb der evangelischen Kirche und Diakonie anzustoßen; Leitungsverantwortliche und Fachleute sollten ins Gespräch gebracht, Räume zum tabufreien Austausch geöffnet werden. 

Wir danken der Redaktion für die Möglichkeit, die Vorträge, Interviews und das Podiumsgespräch der Tagung in dieser epd- Dokumentation abzudrucken. Der Dank richtet sich ebenso an alle Referentinnen und Referenten sowie die Podiumsgäste für die unkomplizierte und zügige Bereitstellung der Beiträge. Das Podiumsgespräch wurde transkribiert und ist nahezu unverändert abgedruckt. 

Die Vorträge und Interviews bilden sicherlich nicht die gesamte Breite der innerevangelischen Stimmen und Positionen ab, sondern nur einen Ausschnitt daraus. Aber die Tagung soll ja auch nur eine Ouvertüre sein. Paulus schreibt: »Prüft aber alles und das Gute behaltet« (1. Thess 5,21). In diesem Sinne hoffen wir, dass die vorliegende Dokumentation dazu anregt, den innerevangelischen Diskurs weiterzuführen. 

Ruth Denkhaus, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Gesundheitsethik an der Evangelischen Akademie Loccum 
Oberkirchenrätin Dr. Anne- Kathrin Pappert, Referentin für Bio-, Medizin- und Umweltethik, Evangelische Kirche in Deutschland 

Aus epd Dokumentation 36/22 vom 6. September 2022: Reproduktive Selbstbestimmung, Lebensschutz und Strafrecht. Die neue Diskussion um § 218 StGB als Herausforderung für die evangelische Kirche (Online-Tagung des Zentrums für Gesundheitsethik (ZfG) an der Evangelischen Akademie Loccum in Kooperation mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), 15. Juni 2022)
52 Seiten / 5,30 €

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