Lernen im Exil: 65 Jahre tibetische Kinderdörfer in Indien
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Lernen im Exil: 65 Jahre tibetische Kinderdörfer in Indien
Dharamsala (epd).

In der bergigen Landschaft des nordindischen Dharamsala betten sich eine Reihe von Ziegelbauten mit grünen Dächern in die Landschaft ein. Auf einem Platz spielen Kinder in blauen Schuluniformen, Jungen und Mädchen des „Tibetan Children's Village“. Orte wie diese sind seit Jahrzehnten ein Rückgrat der tibetischen Exilgemeinschaft. Doch die Zeit steht nicht still und zwingt die Gemeinschaft zu neuen Wegen.

Schuldirektor Tsultrim Dorjee nennt seine Schülerinnen und Schüler liebevoll „Sprösslinge Tibets”, seiner Heimat, die seit der Annektierung durch China 1950 unter Kontrolle Pekings steht. Seit vielen Jahren arbeitet Dorjee nun schon im “Tibetan Children’s Village„, kurz TCV, in Dharamsala, nachdem er selbst als junger Mann aus China geflüchtet war. “Ich wollte meiner Gemeinschaft etwas zurückgeben", sagt er.

Fluchtrouten geschlossen

Für viele Tibeterinnen und Tibeter, die in Indien aufgewachsen sind, war der Besuch einer Schule unter der tibetischen Exilregierung prägend. Die gebührenfreien TCVs gelten dabei als wichtigste Institution. Ursprünglich für Waisen, Halbwaisen und Kinder geflüchteter Familien gegründet, bieten sie Bildung von der Krippe bis zur höheren Schule.

Doch über die Jahrzehnte hat Dorjee einen Wandel erlebt. „Heute kommen kaum noch geflüchtete Kinder nach Indien“, sagt er. Chinas Behörden hätten die Überwachung verschärft, Fluchtrouten seien praktisch geschlossen. Zugleich verlassen viele Exiltibeter Indien, jenes Land, in dem der 14. Dalai Lama seit seiner Flucht aus Tibet im Jahr 1959 eine Exilregierung sowie ein dichtes Netz an Bildungs- und Sozialstrukturen aufgebaut hat.

Bereits 1960 nahm das erste Kinderdorf rund 50 Kinder aus Straßenbaulagern im indischen Jammu auf. Ihre Eltern konnten sie weder versorgen noch für eine Schulbildung sorgen. Bildung wurde schnell zum zentralen Pfeiler der Exilgemeinschaft. „Ob unsere Zukunft friedlich oder gewalttätig sein wird, das hängt davon ab, wie wir die junge Generation formen“, sagt Dorjee.

Kultur und Sprache bewahren

Der tibetische Entwicklungsberater Tenzin Paljor sieht das ähnlich: „Unsere Exilgemeinschaft ist erfolgreich, da sie kompakt ist.“ Die Schulen stärken den Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl. Neben dem regulären Unterricht nach indischem Lehrplan vermitteln sie tibetische Sprache und Kultur. „Im Exil drohen kulturelles Wissen und Sprache verloren zu gehen“, warnt Paljor. Die Schulen wirkten dem entgegen.

Allerdings sind die Herausforderungen ganz andere geworden. Heute lebt fast die Hälfte der tibetischen Exilgemeinschaft außerhalb Südasiens - ein tiefgreifender Wandel. Bald gehört auch Sonam dazu, die im TCV zur Schule ging. Als Kind floh sie nach Indien, studierte später dort und bereitet sich nun auf ein Studium in Kanada vor. Sie gehört zu einer Generation, die neue Perspektiven im Westen sucht.

Sonam ist dankbar für ihre Zeit in dem tibetanischen Kinderdorf. Aber die Abwanderung und die niedrige Geburtenrate zwingen Einrichtungen wie das TCV, sich neu zu justieren und ihre Angebote anzupassen.

Sommerschule für Kinder aus der westlichen Diaspora

Direktor Dorjee sieht Chancen in neuen Formaten - etwa in einer Sommerschule für Kinder aus der westlichen Diaspora, die er aufgebaut hat. Die Programme richten sich an 10- bis 17-Jährige, die meist aus Europa und Nordamerika anreisen. Ziel ist es, Sprache, Kultur und Gemeinschaft erlebbar zu machen. Es geht um Identität und Kontinuität als Versuch, ein Gemeinschaftsgefühl im Exil zu bewahren.

„Es wird schwieriger, unsere Kultur weiterzugeben“, sagt Tenzin Paljor. Die Sommerschule sei ein wichtiger Schritt, aber nur ein Anfang. Er sieht die TCVs jedoch weiterhin als soziale Knotenpunkte, die neben Tradition auch ethische Werte vermitteln.

Inzwischen sitzen immer mehr Kinder aus buddhistischen Familien der Himalaja-Regionen Indiens in den Klassen. Das sichert den Schulen zumindest das Überleben.

Von Natalie Mayroth (epd)