
Abitur, Führerschein, Studium - stets müssen Prüfungen bewältigt werden. Manchen Menschen fällt das leicht. Andere haben panische Angst vor jedem Test. „Zu mir kommen im Moment auffallend viele Menschen mit Prüfungsangst“, sagt Brigitte Neumann, psychologische Beraterin aus dem unterfränkischen Aschaffenburg. Einige hätten Angst vor der Führerscheinprüfung, andere vor Prüfungen in der Lehre oder an der Uni.
Prüfungsängste resultieren nicht notwendig daraus, dass jemand den abgefragten Stoff nicht beherrscht. Möglicherweise können Prüflinge durch ihre Angst auf ihr vorhandenes Wissen nicht zugreifen. Es kann auch andere Gründe geben als Angst.
„Was bringt es Ihnen, bestehen Sie die Prüfung nicht?“ Mit dieser Frage hat Ingrid von Fircks schon viele Patienten überrascht. Hinter Prüfungsangst, sagt die Psychologin aus München, stecke nicht selten Selbstsabotage. Sie erinnert sich an einen Zimmermann, der nach einer gescheiterten Meisterprüfung zu ihr kam. Im therapeutischen Gespräch stellte sich heraus, dass sein Wunsch, Meister zu werden, durchaus ambivalent war: „Er hätte dann viel seltener in Urlaub fahren können.“ Und Reisen liebte er.
Der Zimmermann sei auf die Idee gekommen, einen Kollegen zu fragen, ob der mit ihm zusammen einen Betrieb gründen würde, so dass beide weniger stark belastet wären. Nachdem diese Perspektive geschaffen war, kam er zum ersehnten Meisterbrief.
Ein anderes Beispiel: Je weniger Unterstützung Kinder von ihren Eltern erhalten und je schlechter die Bindung zwischen ihnen ist, umso größer ist die Gefahr, dass sich Ängste oder andere Störungen entwickeln. Von Fircks, die zurzeit Erzieherinnen coacht, sieht in Kitas mehr Kinder mit Störungen und Unsicherheiten denn je. Aufgrund ihrer aktuellen Beobachtungen prognostiziert die Psychologin, dass Prüfungsängste weiter zunehmen werden.
Belastbare Zahlen, ob Prüfungsangst zunimmt, gebe es seines Wissens für Deutschland nicht, sagt indes Psychologieprofessor Jürgen Margraf von der Uni Bochum. Durch das Deutsche Gesundheitsbarometer zur psychischen Gesundheit, das am Bochumer Standort des neuen Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit aufgebaut wird, werde es diese Daten wohl 2026 geben. „Aus meiner Tätigkeit als Prüfer kann ich berichten, dass die Leistungen in mündlichen Prüfungen seit der Pandemie schlechter geworden sind“, erklärt er. Zu vermuten stehe, dass der massive Anstieg an virtuellen Formen der Lehre ohne direkten Austausch zu mehr Prüfungsangst geführt habe.
Jeanette Wolf, Lernbegleiterin in der Fort- und Weiterbildung der Berliner WBS Berufsfachschulen, glaubt, Schülerinnen und Schüler erlebten, dass das, was in den Schulen gelehrt wird, mit ihrem Leben und mit ihrem Lebensstil immer weniger zu tun hat. Lehrer schaffen es der Lernbegleiterin zufolge weithin nicht, Neugier entstehen zu lassen und Schüler in einen „Lernflow“ zu bringen.
Wolf, die seit 30 Jahren im pädagogischen Bereich tätig ist, analysiert in einer 2023 begonnenen Studie das aktuelle Lernverhalten und damit auch Prüfungsängste der WBS-Kursteilnehmer. Immer wieder höre sie von den Studentinnen und Studenten, welche negativen Emotionen schlechte Noten hervorrufen. Sie beklagt, es gebe zu wenig „positives Fehlermanagement“. In ihren Kursen erlebe sie ängstliche und „erlernt unsichere“ junge Menschen. Die Teilnehmer selbst trauten sich oft kaum zu, Kurse erfolgreich zu bewältigen.
Bildungsinstitutionen müssten bei der Wissensvermittlung viel stärker das konkrete Ziel vor Augen haben, „statt die Leistungen eines Moments zu beurteilen“, sagt Wolf. In Schulen müsse es Ziel werden, junge Menschen zum eigenständigen Denken zu befähigen. In der Erwachsenenbildung bestehe das Ziel darin, Studenten und Kursteilnehmer für die konkreten Aufgaben, die auf sie warten, lebensnah zu qualifizieren.