Binsenweisheiten gelten in der Regel als abgedroschen. Jenny Holzer hingegen erregt damit bis heute Aufmerksamkeit. Ihre Binsenweisheiten, sogenannte „Truisms“, standen am Anfang ihrer Karriere als Künstlerin. Sie druckte sie in den 1970er Jahren auf Kopierpapier und klebte sie in New York zunächst auf Hauswände oder Laternenmasten. Später erschienen die Sprüche auf Plakaten, großen Leuchttafeln, liefen als Fließtexte über LED-Säulen und wurden auf Marmorbänken eingraviert. Einer der bekanntesten „Truisms“ von Holzer: „Abuse of power comes as no surprise“ (Machtmissbrauch ist keine Überraschung). Rückblickend wirkt er wie eine frühzeitige Warnung vor den politischen Entwicklungen in den USA.
Mehr als 40 Jahre später müssen kurze Nachrichten und Sprüche nicht mehr mühsam an Hauswände geklebt, sondern können ohne Aufwand über soziale Medien verbreitet werden. Die neuen „Binsenweisheiten“ sind auf „X“ und Co zu finden. Holzer, die am 29. Juli 75 Jahre alt wird, macht auch Social-Media-Botschaften zu Kunst, etwa durch ihre 2022 entstandene Installation „Cursed“, auf Deutsch „Verflucht“: Sie besteht aus verknautschten Metallplatten mit fast 300 eingravierten Tweets aus der ersten Amtszeit von US-Präsident Donald Trump. Jenny Holzer zeichne aus, dass sie mit ihrem Werk immer wieder ganz konkret auf das aktuelle Weltgeschehen eingehe und dabei auch die neuesten Entwicklungen der Medienwelt einbeziehe, erklärt Vivien Trommer, die 2023 eine große Holzer-Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf kuratierte.
Konzeptkünstlerin Holzer stellte auf der documenta in Kassel aus, vertrat 1990 die USA bei der Biennale in Venedig und wurde dort mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Zur Welt kam sie 1950 als Tochter eines Autohändlers und einer Reitlehrerin in Gallipolis im US-Bundesstaat Ohio.
Ihre Anfänge auf verschiedenen Kunsthochschulen waren zunächst wenig erfolgreich. „Ich hatte eine Reihe von grässlichen abstrakten Gemälden geschaffen“, erinnerte sie sich bei einem Vortrag fast vier Jahrzehnte später an diese Zeit: „Ich hatte keine Orientierung.“ Ihre Rettung sei die Aufnahme in das Studienprogramm des New Yorker Whitney Museums gewesen. Heute zählt der Kunstkompass des Magazins „Capital“ Holzer zu den weltweit 20 wichtigsten Kunstschaffenden.
Ihre künstlerische Grundhaltung bildete sich in den 1970er Jahren heraus, als sie sich der jungen New Yorker Künstlervereinigung CoLab anschloss. Die Gruppe wollte dem damaligen Mainstream, dem amerikanischen abstrakten Expressionismus, eine Kunst entgegensetzen, die wieder Bezug auf die Alltagswelt und das politische Geschehen nimmt. „Dieses Ziel ist im Werk von Jenny Holzer fest verankert“, erklärt Trommer.
Der Durchbruch gelang Holzer 1982, als ihre „Truisms“ im Rahmen eines Kunst-Projekts auf einer riesigen Reklame-Leuchttafel am New Yorker Times Square aufblinkten. Später verwendete die Künstlerin neben ihren eigenen auch fremde Texte und setzte diese in Dialog mit Architektur. Beispielsweise ließ sie in Frankfurt am Main Texte von Goethe, Martin Luther oder Theodor Adorno über die Alte Nikolaikirche oder das Rathaus wandern.
1989 kletterten ihre Texte über elektronische Leuchtbänder die schneckenförmige Rotunde des New Yorker Guggenheim Museums empor. „The beginning of the war will be secret“ (Der Beginn des Krieges wird geheim sein), hieß es da zum Beispiel. Im vergangenen Jahr hatte sie dort erneut eine Einzelausstellung und legte das Werk in erweiterter Form wieder auf.
In Berlin ist Holzers Kunst dauerhaft in der Nordeingangshalle des Reichstags vertreten: Dort platzierte sie eine Säule, an der Redetexte von Bundestagsabgeordneten in Richtung Decke fließen, die sich vor allem mit den Grenzen Deutschlands und mit der gesellschaftlichen Rolle der Frau beschäftigen.
„Jenny Holzers Werk hat einen zutiefst demokratischen Anspruch“, sagt Trommer. „Sie versteht den Ausstellungsraum als eine Art Plattform, wo über die großen Herausforderungen unserer Zeit diskutiert werden kann.“ Unter dem Titel „Lustmord Table“ prangerte sie die systematischen Vergewaltigungen von Frauen im Jugoslawienkrieg an und umwickelte 1994 Knochen mit silbernen Textbändern.
Auch die Malerei spielt in ihrem Werk gegenwärtig wieder eine Rolle. Im vergangenen Jahr übermalte sie E-Mails von Trump und seinem Team vom Tag des Sturms auf das Capitol im Januar 2021 mit schwarzen Fingerabdrücken. Auf den Krieg in der Ukraine reagierte sie unter anderem, indem sie aktuelle Tagebucheinträge von Ukrainerinnen und Ukrainern auf eine LED-Tafel brachte.
Die Künstlerin, die heute vorwiegend auf einer Farm in Hoosick im US-Bundesstaat New York lebt, entwickelt ihre Arbeit kontinuierlich weiter: Die Leuchtstelen „So GOOD“ (2024) und „BAD“ (2023) zeigen KI-generierte Texte.