
Da ist das bekannte Bild von Zwillings-Männern mit Espressokannen statt Köpfen, ein ironisches Selbstporträt des Künstlers, oder ein übergroßes Megafon in weiter Landschaft, dem ein einsamer Mann andächtig lauscht. „Listen to the Echo“, lautet der Titel der großen Werkschau, die das Museum Folkwang in Essen zum 70. Geburtstag des international gefeierten Zeichners, Filmemachers und Regisseurs vom 4. September 2025 bis 18. Januar 2026 zeigt. Eine Herausforderung, sich auf große Themen wie Kolonialismus, Gerechtigkeit und Veränderung einzulassen, begleitet vom Megafon als Leitmotiv, das mal als Zeichnung, mal als Skulptur oder als echter Lautsprecher daherkommt.
160 Exponate aus fast fünf Jahrzehnten - angesichts dieser umfassenden Retrospektive seines Werkes zeigt sich auch William Kentridge selbst bei der Presseeröffnung am Mittwoch im Museum Folkwang berührt. „Es ist schockierend“, sagt der 70-Jährige, lange habe er sich als jungen Künstler gesehen und erlebe sich hier und heute unausweichlich als Erwachsenen. Folkwang-Direktor Peter Gorschlüter nennt Kentridge einen Künstler mit „unverwechselbarer Bildsprache“. Wie kein anderer verkörpere er die Folkwang-Idee von der Vielfalt künstlerischer Gattungen mit Zeichnung, Film, Skulptur oder Performance, er verbinde Geschichte und Gegenwart und stehe für den Dialog der Kulturen: „Im Zentrum seines Werkes sind die Menschen.“
1955 im südafrikanischen Johannesburg geboren, wo er noch heute im früheren Elternhaus lebt und sein Studio hat, war William Kentridge von Kindheit an mit Gewalt und Unrecht des rassistischen Apartheidsystems konfrontiert. Er wuchs in einer apartheidkritischen, jüdischen Familie auf, beide Eltern waren bekannte Anwälte und verteidigten Aktivisten vor Gericht, darunter auch Nelson Mandela in den 1950er Jahren.
Gleich zu Beginn der Ausstellung zeigt die Kurzfilmreihe „Drawings for Projection“ im abgedunkelten Raum Kentridges frühe Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart Südafrikas. „Johannesburg und Essen sind beide ehemalige Bergbaustädte“, zieht Kentridge eine Parallele, aber während die Zechen im Ruhrgebiet stillgelegt seien, würden in Johannesburg die allerletzten Goldkörnchen bis heute illegal geschürft, von den Ärmsten der Armen.
Welches Kunstwerk Kentridge den Essener Besuchern besonders ans Herz legen würde? Die Antwort kommt prompt. Es ist die mechanische Miniaturbühne „Black Box/Chambre Noire“ von 2005. Auch wenn sie auf den ersten Blick wie ein Puppentheater anmuten mag, so erinnert die 20-minütige Aufführung an den Völkermord deutscher Truppen 1904/05 an den Volksgruppen der Herero und Nama in Namibia. Ein Megafon tönt laut „Trauerarbeit“ und will aufrütteln. Den Bezug zur Ruhrregion erläutert Kurator Tobias Burg. Er erinnert daran, dass der Essener Baedeker Verlag vor dem Ersten Weltkrieg heute als haarsträubend empfundene Kolonialliteratur publiziert habe. „Dieser Verlag war ein kleiner Mosaikstein des Kolonialismus hier in Essen.“
Die ebenso politisch wie poetisch und fantasievoll entwickelten Motive zu Themen wie Unterdrückung und Gewalt, Rebellion und Freiheitsdrang ziehen sich durch Kentridges künstlerisches Schaffen über alle Jahrzehnte. Die Ausdrucksformen aber werden immer vielfältiger, wie die Ausstellung dokumentiert. So bilden die anfänglichen großformatigen Kohlezeichnungen in unzähligen Veränderungen die Basis seiner Filme, hinzu kommen Druckgrafik und Skulptur, Operninszenierungen und multimediale Bühnenstücke.
Ein besonderer Blickfang der Folkwang-Ausstellung wegen ihrer schieren Größe und dramatischen Bildsprache sind 15 Tapisserien (Bildteppiche) mit dem Titel „Porter“ (Träger). Sie zeigen überdimensionale schwarze Umrissfiguren auf historischen Landkarten von Europa, die schwere Lasten tragen. Sinnbilder für die dunklen und gefährlichen Seiten der Migration sind etwa ein mit Menschen überladenes Boot im Zentrum des Raumes. Den Abschluss jedoch bildet ein Schmunzeln beim fiktiven Besuch in Kentridges Johannesburger Studio. In neun Kurzfilmen wird hier die Entstehung des Selbstporträts mit Kaffeepott entschlüsselt - der Künstler zeigt sich bei der Arbeit, wie gewohnt im weißen Oberhemd mit dunkler Hose.
In einem großen Kooperationsprojekt feiern fast zeitgleich auch die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden vom 6. September bis 15. Februar 2026 Kentridges 70. Geburtstag mit mehreren Ausstellungen. Im Mittelpunkt steht hier unter anderem seine Beschäftigung mit dem Thema Prozession als Metapher für das Streben nach Veränderung. Wie Folkwang-Direktor Gorschlüter betont, sei „die Ost-West-Partnerschaft der Museen gerade in Zeiten der Polarisierung ein wichtiges Zeichen“. Beide Ausstellungen sind in enger Zusammenarbeit mit Kentridge selbst entstanden.
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