Zwei Hände wühlen in einem weißen Schuhkarton. Ein älterer Mann fischt einen Schlüssel hervor: „So, da wär er, Herr Kronbinder.“ „Kronmayr!“, korrigiert der Angesprochene. „Entschuldigung“, sagt der Mann im grauen Kittel. „Kronmayr“, wiederholt der falsch Benannte. „Kling ist mein Name“, stellt sich der Ältere vor. Kling, Egon Kling, das ist der Hausmeister.
Mit dieser Schlüsselszene beginnt am 8. Dezember 1985 in der Bundesrepublik ein neues Fernsehkapitel. Es ist die erste gespielte Szene der „Lindenstraße“. Die wöchentliche Serie aus Köln über eine Nachbarschaft in München lief fast 35 Jahre lang jeden Sonntag am frühen Abend im Ersten Programm der ARD und gehörte bald zu vielen deutschen Familienhaushalten wie die Kirche zum Dorf.
Seifenoper und Fernsehmagazin
Vorbild war die britische Dauerserie „Coronation Street“ vom Privatsender ITV. Nun hatte sich Hans W. Geißendörfer, 1979 für den Oscar nominierter Autorenfilmer und renommierter Vertreter des Neuen Deutschen Films, aufgemacht, auch in Deutschland eine solche Serie zu etablieren. Sie sollte gefühlsselig sein wie eine Seifenoper und gesellschaftspolitisch relevant wie ein Fernsehmagazin. Was klingt wie die Quadratur des Kreises, gelang. In den 80er und 90er Jahren sahen im Schnitt um die zehn Millionen Zuschauer die Folgen.
Der Medienwissenschaftler Dietrich Leder, von 1994 bis 2021 an der Kölner Kunsthochschule für Medien Professor für Fernsehkultur, nennt zwei Gründe für den Erfolg der Serie: „Zum einen verknüpfte die 'Lindenstraße', für das deutsche Fernsehen ungewöhnlich, klassische Elemente des Melodramas - Liebe, Familie, Betrug, Enttäuschung und Hoffnung - mit aktuellen gesellschaftlichen Themen. Zum anderen lief sie auf einem für Serien ungewöhnlichen Sendeplatz am frühen Sonntagabend, zu dem die Familien damals gemeinsam fernsahen.“
Am Puls des Publikums
Was war nicht alles Thema in dieser Serie über Sein und Zeit des deutschen Alltags: Umweltaktivismus, Datenschutz, Schwulenkuss, Homo-Ehe, Aids, Sexismus, Bulimie, Altnazis, Neonazis, unkeusche katholische Priester, Konfuzianismus, psychische Krankheiten, Inklusion von Menschen mit Behinderung, Drogen, Kommentierung von politischen Ereignissen, aktuelle Einbeziehung von Bundestagswahlergebnissen.
„Die Serie“, erklärt Dietrich Leder, „spiegelte die Liberalisierung der deutschen Gesellschaft in den 1980er Jahren, was die Sexualität, das Zusammenleben, den Umgang miteinander betrifft, und sie war zugleich selbst Teil dieser Liberalisierung. Das lag auch an einer gewissen pädagogischen Absicht des Erfinders und Produzenten Hans W. Geißendörfer.“
Die „Lindenstraße“ war nah dran am Puls des Publikums und entwickelte ein hohes Identifikationspotential. Die Menschen unterhielten sich über Freud und Leid der „Lindenstraßen“-Bewohner, nicht selten wurden die fiktionalen Figuren wie reale Menschen wahrgenommen. Die Schauspielerin Marie-Luise Marjan wurde als „Mutter Beimer“ zu einem der größten Stars des Ensembles. Als ihre Serien-Nebenbuhlerin Anna Ziegler ihr den Gatten „Hansemann“ ausspannte, wurde deswegen die Schauspielerin Irene Fischer, die die Anna verkörperte, im realen Leben schon mal auf der Straße beschimpft.
Harry Rowohlt als Obdachloser
Marianne Rogée war in der „Lindenstraße“ Isolde Pavarotti. Als Serienfigur mit einem Italiener verheiratet, bekam sie im wahren Leben „im Sommer oft von Italienern ein Eis ausgegeben“. So erzählte sie es im November 1991 auf einer „Lindenstraßen“-Tagung, die das Grimme-Institut in Marl eigens zu dem besonderen Fernsehphänomen veranstaltete. Martin Rickelt wiederum spielte in der „Lindenstraße“ den Alt-Nazi „Onkel Franz“, was dazu führte, dass ihm „unaufgefordert und mit kameradschaftlichen Grüßen die 'National-Zeitung' ins Haus geschickt“ wurde, wie er auf der Marler Tagung berichtete.
Auch Til Schweiger spielte von 1990 bis 1992 in 145 Folgen der „Lindenstraße“ mit. Und zum 20. Sendejubiläum buchte in einem Gastauftritt der US-Schauspieler Larry Hagman in seiner Rolle als J.R. Ewing im Reisebüro von Helga Beimer ein Flugticket zurück nach Dallas. Handlungsort der „Lindenstraße“ war München, produziert wurde die Serie aber in Köln-Bocklemünd vom WDR.
Ab Februar 1995 bis zu seinem Tod 2015 agierte die Übersetzer-Ikone Harry Rowohlt in der „Lindenstraße“. In Kurzauftritten als Obdachloser Harry Rennep - bitte den Namen einmal rückwärts lesen - sorgte er, meist am Tresen des Serien-Restaurants „Akropolis“ lehnend, für kommentierende Bonmots („Essen wird allgemein überschätzt“).
Am Ende sanken die Einschaltquoten
Doch langfristig hielt der Erfolg der Serie nicht an. Die Entwicklungen im Fernsehen wie auch die gesellschaftspolitischen Umbrüche führten dazu, dass der pädagogische Kurs der „Lindenstraße irgendwann in den 2000er Jahren antiquiert wirkte“, sagt der Medienwissenschaftler Leder.
Die Einschaltquoten sanken stark, lagen am Ende bei um die zwei Millionen Zuschauern. Das war der ARD zu wenig. Sie wollte die Serie nicht mehr finanzieren und stellte die Produktion nach gut 34 Jahren ohne große Not ein. Die 1.758ste und letzte „Lindenstraßen“-Folge lief am 29. März 2020. Immerhin wurde das Ende der Serie an diesem Tag in der Hauptausgabe der ARD-„Tagesschau“ vermeldet. Die englische „Coronation Street“ gibt es immer noch, seit dem 9. Dezember 1960.