Revolutionär und Grenzgänger der Kunst
Berliner Retrospektive zum Dadaisten Raoul Hausmann
Berlin (epd).

Ein großes Plakat zeigt ein Porträt des sogenannten „Dadasophen“ Raoul Hausmann im Seitenprofil mit aufgerissenem Mund. Er schreit: „Nieder die Kunst“. Darüber und darunter finden sich zentrale Dada-Sätze: „Sperren Sie endlich Ihren Kopf auf!/Machen Sie ihn frei für die Forderungen der Zeit!“ Damit begrüßte die Erste Internationale Dada-Messe in Berlin 1920 ihre Besucher. In der Hausmann-Retrospektive, mit der die Berlinische Galerie den Dadaisten und Ausnahmekünstler Raoul Hausmann ab Freitag würdigt, hängt das Plakat neben ikonischen Collagen, mit denen er ab 1919 ein neues Genre schuf und die etablierte Kunstwelt infrage stellte.

Dafür sammelte er Raoul Hausmann (1886-1971) Schrift- und Bildfetzen, zerschnitt selbst eigene Arbeiten, um sie zu neuen, nicht selten verstörenden Bildern zusammenzufügen. Der Mitbegründer der Berliner Dada-Bewegung gilt als einer der innovativsten und vielseitigsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Zeitlebens blieb er ein Grenzgänger zwischen den Genres. Sein Werk umfasst Collagen und Fotomontagen, Fotografie und Malerei, Performances, visuelle Poesie sowie kunsttheoretische und literarische Schriften.

Umfassende Rückschau auf radikalen Avantgardisten

Die Berlinische Galerie nimmt das 50-jährige Jubiläum ihrer Gründung zum Anlass einer umfassenden Rückschau auf das Werk des radikalen Avantgardisten. Darin spiegelt sich auch die Sammlungsgeschichte der Institution, wie Ralf Burmeister, Leiter des Archivs und Kurator der Ausstellung, betont. Von Anbeginn bildeten Dokumente und künstlerische Arbeiten des Berliner Dada einen Schwerpunkt von Gründungsdirektor Eberhard Roters.

Jetzt zeigt die Schau mit über 200 Exponaten die ganze Bandbreite von Hausmanns Schaffens, von frühen expressionistischen Arbeiten über erste Collagen und Schriften zum Berliner Dada, Druckgrafik, Fotografien und Fotomontagen bis zum selten gezeigten Spätwerk, das im Musée d’art contemporain de la Haute-Vienne - Château de Rochechouart in Limoges, Hausmanns letztem Wohn- und Schaffensort, gehütet wird.

Geboren 1886 in Wien als Sohn des Malers Victor Hausmann, siedelte Raoul Hausmann bereits früh mit der Familie nach Berlin um. Seine frühen Gemälde zeigen Einflüsse der Brücke-Künstler, ab 1915 entwickelte er einen eigenen kubistischen Stil, wie etwa in dem Porträt seiner damaligen Geliebten und Malerkollegin Hannah Höch. 1918 wendet sich Hausmann der in Zürich gegründeten dadaistischen Bewegung zu. Im Dada-Club Berlin erhebt er unter anderem mit Höch, mit der er die Fotomontage entwickelt, aber auch John Heartfield, George Grosz und Kurt Schwitters Dada zum neuen künstlerischen Ausdruck der Zeit.

Französisches Limoges als neuer Lebensmittelpunkt

Zu den frühen Collagen gehört das noch malerisch wirkende Porträt einer alten Frau (Dr. S. Friedländer-Mynona). Erste Werke der Plakatkunst mit zufällig arrangierten Buchstaben aus dem Setzkasten einer Druckerei markieren den Übergang zur Synästhesie. In Performances führt er seine Lautgedichte vor. Bis in die späte Schaffensphase hinein bleibt das Verschalten der Sinne seine Vision. Ab 1927 wendet er sich der Fotografie zu.

1933, mit dem Beginn der Nazi-Zeit, verlässt Hausmann mit seiner zweiten Frau Hedwig und seiner Lebensgefährtin Vera Broido, beides Jüdinnen, Deutschland. Nach mehreren Stationen des Exils wählt er ab 1944 das französische Limoges zum neuen Lebensmittelpunkt. Unterstützt von den beiden Frauen widmet er sich erneut der experimentellen Fotografie, erstellt Fotomontagen und Collagen und beginnt - als über 70-jähriger - erneut zu malen. Aufgrund eines lebenslangen Augenleidens nahezu erblindet, schafft er in einer letzten Arbeit vor seinem Tod durch Ertasten eine rein weiße Collage aus unterschiedlich strukturierten Papierschnipseln. Auch hier sucht er das Haptische mit dem Optischen zu verbinden.

Die Ausstellung würdigt einen Grenzgänger der Kunst, der mit seinem Werk alle Gewissheiten des Sehens hinterfragt. Die Auseinandersetzung damit regt an, den „Kopf aufzusperren“ und ihm zu folgen.

Von Sigrid Hoff (epd)