Offenheit und Experimentierfreude, aufmerksam beobachtete Details und sorgsam abgestimmte Harmonien prägten das vielseitige Schaffen des Impressionisten Camille Pissarro. „Die Schäferin“ (1881) ist das Titelbild der Retrospektive, die das Potsdamer Museum Barberini dem Maler jetzt widmet. Kontemplativ wirkt das Porträt der jungen Schäferin in schlichtem Rock, mit Mütze und Holzpantinen, die, an eine Böschung gelehnt, verträumt mit einem Stock im Gras stochert.
Camille Pissarro (1830-1903) gilt „als Vaterfigur des französischen Impressionismus“, erklärt Nerina Santorius, Kuratorin und Sammlungsleiterin im Museum Barberini. Eines seiner Bilder zeigt eine Metzgerin, gerahmt von dem Holzgerüst ihres Marktstandes. Sie legt ihre Ware aus, lebhaftes Treiben hinter ihr bestimmt die Szene. Ein anderes Bild zeigt eine junge Bäuerin an einem kalten Wintertag beim Feuermachen auf dem Feld. Aus dem qualmenden Stapel des feuchten Holzes züngeln Flammen, an denen sich ein Kind die Hände wärmt.
„Wir zeigen ihn aber auch als Anarchisten, dessen Weltanschauung seine Kunst prägte und der ein großer Netzwerker war“, sagt Santorius. Unter dem Titel „Mit offenem Blick. Der Impressionist Camille Pissarro“ würdigt die Schau mit über 100 Werken aus internationalen Sammlungen, darunter sieben Gemälde der hauseigenen Hasso-Plattner-Sammlung, das Spektrum seines Oeuvres.
Geboren 1830 in Dänisch-Westindien wächst Pissarro als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie mit französisch-portugiesischen Wurzeln auf und bleibt zeitlebens dänischer Staatsbürger. Erste Bilder malt er unter freiem Himmel in der Karibik, mit einem dänischen Malerfreund reist er zwei Jahre durch Venezuela.
1855 geht er nach Frankreich, wo er an der privaten Académie Suisse Claude Monet und Paul Cézanne kennenlernt. Pissarro beginnt, das Alltägliche in Szene zu setzen, ohne es zur Idylle zu verklären. Erstmals entdeckt er die rauchenden Schlote in den Pariser Vororten als Bildmotiv der Moderne. 1870, mit Beginn des deutsch-französischen Krieges, flieht Pissarro mit seiner großen Familie nach London. Dort wird die Begegnung mit Arbeiten von William Turner zur Inspiration seiner eigenen Suche nach einer neuen Ästhetik. Mit dem Bild einer Dampflok, deren Gleise die Landschaft zerschneiden, entdeckt Pissarro 1871, noch vor Monet, die Eisenbahn als Motiv für den Impressionismus.
Bei der Rückkehr nach Paris erfährt der Maler von der Zerstörung von mehr als 1.000 seiner Werke durch Soldaten und wagt einen Neuanfang. Gemeinsam mit gleichgesinnten Kollegen, darunter Monet, Renoir und Sisley, organisiert er 1874 die erste Ausstellung impressionistischer Kunst. Als einziger Maler präsentiert Pissaro seine Bilder auf allen acht Impressionismus-Ausstellungen und erweist sich als kongenialer Netzwerker.
Ab 1880 schlagen sich Pissarros sozialutopische Ideen mit dem Idealbild einer Gesellschaft ohne Hierarchien vermehrt in seinen Arbeiten nieder. Im Mittelpunkt stehen die Menschen auf dem Land, die im Einklang mit dem Rhythmus der Jahreszeiten und der Natur leben. Anders als bei seinen Kollegen ist bei Pissarro die Landschaft nicht Freizeitraum, sondern Ort aktiver Aneignung. Ob Heumacherinnen, Wäscherinnen, Erbsenpflückerinnen - in eindrucksvollen Szenen feiert er insbesondere die Frau als Gestalterin von Landschaft. Der Nutzgarten seines 1884 bezogenen Hauses in dem Dorf Éragny bei Paris wird für den Maler zum wichtigen Motiv. Häufig porträtiert er dabei auch seine Frau Julie.
Dass Pissarro zeitlebens offen blieb für neue künstlerische Entwicklungen, beweist sein kurzer Ausflug in den Neoimpressionismus, dem die Ausstellung ein eigenes Kapitel widmet. Erst spät, in seinen letzten Lebensjahren, fand Pissarro zur Stadt als Motiv zurück. In seinen Paris-Serien wird die Metropole zur Bühne, auf der sich Menschen aller sozialen Schichten begegnen.