Martin Patzelt (CDU), ausgebildeter Sozialpädagoge, war Bundestagsabgeordneter, als 2015 die große Fluchtbewegung Deutschland erreichte. Der frühere Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) setzte auf pragmatische Ansätze: Flüchtlinge sollten schnell in Arbeit, am besten auch von Einheimischen zu Hause aufgenommen werden, um sich schnell zu integrieren. Durchgesetzt haben sich seine Vorschläge nicht. Mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) sprach er zehn Jahre später darüber, warum er sie nach wie vor für richtig hält, sie als „schlechter Politiker“ aber nicht durchsetzen konnte.
epd: In diesen Tagen jährt sich die Fluchtbewegung nach Deutschland mit dem berühmten Ausspruch der damaligen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) - „Wir schaffen das“ - zum zehnten Mal. Sie waren damals Bundestagsabgeordneter. An welches Ereignis oder Detail erinnern Sie sich persönlich besonders?
Martin Patzelt: Es ging damals zunehmend in der Fraktion um die Frage: Was machen wir mit den vielen Flüchtlingen? Ich erinnere mich an die Bilder im Fernsehen von den Menschen, die über die Gleise marschierten, von Ungarn nach Deutschland. Das war ja der Moment, in dem Angela Merkel dann gesagt hat „Wir schaffen das“, weil sie die Situation nicht ertragen hat. So deute ich den Satz bis heute. Das hieß: Irgendwo müssen die ja hin. Also nehmen wir sie auf.
epd: Sie fanden das richtig.
Patzelt: Ja, aber auch mir ist bei der konkreten Situation himmelangst geworden. Ich hatte die Befürchtung, es könnte politisch Schwierigkeiten geben, wenn es zu einer Konfrontation zwischen einer Menge kasernierter Flüchtlinge und der einheimischen Bevölkerung kommt. Ich fand es deswegen richtig, Flüchtlinge möglichst schnell privat unterzubringen und hatte Menschen dazu aufgerufen, das auch in ihrem Haus zu machen. Ich kenne genug Leute, vor allen Dingen in den westlichen Bundesländern, die alleine als Ältere in einem Haus wohnen und kaum mit dem Grundstück fertig werden. Das hätte eine Win-Win-Situation für beide Seiten werden können.
epd: Sie bekamen dafür wenig Zustimmung, eher Kopfschütteln, aber auch Beschimpfungen und Bedrohungen…
Patzelt: Ich jetzt weiß, wie groß die Angst ist. Erst kürzlich hatte ich das wieder einer Frau vorgeschlagen, die mich bat, eine kleinere Wohnung zu finden. Ihr Mann war gestorben, sie hatte einen Schlaganfall und wollte das Haus verkaufen. Ich schlug ihr vor, jemanden zu finden, einen Migranten, der bei ihr wohnt und dafür in Haus und Garten unterstützt. Dann hätte sie alles behalten können. Für sie kam das nicht infrage. Das ist eine Sperre, die ich verstehen möchte. Ich kann es nur deuten als Angst vor dem Fremden und davor, etwas vom Wohlstand zu verlieren.
epd: Also Rassismus?
Patzelt: Das nehme ich nicht gerne in den Mund.
epd: Warum?
Patzelt: Schauen Sie, was passiert, wenn wir mit diesen Wörtern etwa über die AfD reden, sie alle als Faschisten bezeichnen. Das verstärkt den Trotz und zum Schluss haben wir sie in der absoluten Mehrheit.
epd: Mit dem Wissen über die Auswirkungen der Flüchtlingspolitik zehn Jahre später: Würden Sie Ihren Aufruf wieder so machen?
Patzelt: Ich würde bei der Idee bleiben, Kontakte zwischen der Bevölkerung und den Migranten herzustellen, weil ich sie für die einzig zielführende halte. Aber ich würde es anders angehen. Ich muss in der Rückschau ehrlich sagen: Ich bin ein schlechter Politiker, weil ich mir nie Mehrheiten gesucht habe. Heute würde ich mir erst mal drei, vier bedeutendere Menschen aus Politik, Zivilgesellschaft, Kirchen suchen, um mit denen etwas in die Gänge zu bringen. Und man braucht Beispiele, auf die man hinweisen kann.
epd: Sie und Ihre Frau haben damals selbst zwei junge Männer aus Eritrea bei sich zu Hause aufgenommen. Was ist daraus geworden?
Patzelt: Später auch ein Paar aus der Ukraine übrigens. Einer der beiden Eritreer lebt noch heute bei uns. Er hat einen abgeschlossenen Facharbeiter als Klempner, ist anerkannt und wird zu Grillpartys eingeladen von früheren Kollegen aus dem Supermarkt, wo er anfangs gearbeitet hat. Er hilft mir beim Jugendprojekt hier im Gemeindehaus. Er ist integriert und es hat auch im Ort etwas verändert dadurch, dass sie „den Schwarzen“ kennengelernt und gemerkt haben, dass er ein witziger, kluger, engagierter junger Mann ist.
epd: Was ist aus dem anderen Mitbewohner, wie sie es selbst bezeichneten, geworden?
Patzelt: Er hat sich abgesetzt und ging nach Köln. Da leben relativ viele Eritreer. Er hat dort Heimat gesucht, glaube ich. Und ich glaube, er wollte auch ein bisschen unserem Druck entkommen. Für die Aufnahme bei uns hatten wir zwei Maßgaben formuliert: Ihr müsst ehrenamtlich arbeiten und ihr müsst Deutsch lernen. Wir sind im Guten auseinandergegangen und haben immer noch Kontakt. Er ist jetzt Altenpfleger.
epd: Die neue Bundesregierung schlägt neue Töne in der Asyl- und Migrationspolitik an. Von „Migrationswende“ ist die Rede. Wie blicken Sie auf den aktuellen Kurs?
Patzelt: Es besorgt mich und ich halte es für einen großen Fehler. Dabei will ich gar nicht moralisch oder christlich-ethisch argumentieren, auch wenn ich überzeugter Christ bin. Die Globalisierung ist ein Prozess, den wir nicht aufhalten können. Wir können den Menschen nicht vormachen, auf einer Insel zu leben. Was wir hier in Frankfurt (Oder) mit den Kontrollen an der Grenze machen, ist doch hanebüchen. 30 Kilometer weiter ist ein Grenzübergang, an dem keiner steht. Die Leute sind nicht so dumm, dass sie das nicht merken. Außerdem entsteht wieder Fremdheit zwischen Polen und Deutschen.
epd: Wofür würden Sie sich heute einsetzen, würden Sie noch dem Bundestag angehören?
Patzelt: Ich wäre zum Beispiel dafür, das Freiwillige Soziale Jahr in die Herkunftsländer von Flüchtlingen zu verlegen. Junge Leute kommen aus solchen Erfahrungen anders wieder, das wissen wir doch noch aus der Zeit des Zivildienstes. Wir müssen an die junge Generation kommen, um Verständnis für das Problem zu erzeugen, sich berühren lassen von den Lebensschicksalen. Und wir müssen mehr in diesen Ländern investieren, etwa junge Unternehmer mit einem guten Kredit ausstatten. Meine Erfahrung mit Flüchtlingen ist: Viele glauben nicht an ihre eigene Kraft. Als Sozialpädagoge rate ich dazu, sie zu bestärken, dass sie aus eigener Kraft etwas schaffen können.
epd: Beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das genau das tut, wird nun aber kräftig gekürzt.
Patzelt: Das ist ein ganz fatales Signal. Wir müssen mehr geben. Unsere Außenpolitik wird morgen unsere Innenpolitik sein.
epd: Die Ablehnung der Flüchtlingspolitik hat die AfD groß gemacht. Sie haben sich häufiger gegen die sogenannte Brandmauer zu der zumindest in Teilen als rechtsextrem eingestuften Partei ausgesprochen. Was meinen Sie dabei konkret?
Patzelt: Ich finde ganz schlimm zu sagen: Mit denen reden wir nicht. Damit diskutieren wir die Inhalte der AfD nicht öffentlich und das halte ich für verkehrt. Wir müssen die Wähler partizipieren lassen an der Auseinandersetzung. Deswegen bin ich auch gegen die Schlagworte „faschistisch“ und „rechtsextrem“, solange sie nicht gleichzeitig inhaltlich gefüllt werden. Ich plädiere dafür, die Widersprüche der Parolen der AfD zu erkennen und ihnen zu widersprechen. Deswegen würde ich auch eine Koalition mit der AfD als Minderheitspartner nicht ausschließen. Ich will das nicht, aber ich bin überzeugt, dass sich die AfD unter den Bedingungen, unter denen sie dann Politik machen müsste, von Versprechen verabschieden muss, etwa weil sie Geld kosten. Die können auch nur mit Wasser kochen. Wir haben ja durchaus schon erlebt, wie Parteien abgeschmiert sind, wenn sie nicht das halten konnten, was sie versprochen haben.
epd: Keine Partei in Regierungsverantwortung hat dabei aber bislang demokratische und rechtsstaatliche Regeln und Gepflogenheiten infrage gestellt. Vertrauen Sie darauf auch bei der AfD?
Patzelt: Wir haben die Geschichte des Nationalsozialismus, der Ermächtigung Hitlers vor Augen und sind heute viel stärker. Das Grundgesetz ist unsere Brandmauer, davon bin ich überzeugt. Um es klar zu sagen: Ich suche keine Koalition mit der AfD, um Himmels willen! Aber wenn sie unweigerlich kommt, sage ich: Angst war nie ein guter Berater.