"Ich bin Ich, und hoffe es immer mehr zu werden"
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Paula Modersohn-Becker
Auftaktausstellungen zum 150. Geburtstag von Paula Modersohn-Becker
Worpswede, Bremen (epd).

Es gibt wohl keinen Ort, an dem man der Malerin Paula Modersohn-Becker (1876-1907) so nahe kommen kann wie in Worpswede. In dem Künstlerdorf nahe Bremen steht ihr geliebtes „Lilienatelier“, heute Teil einer Ferienwohnung. Wenige Fußminuten entfernt befindet sich das ehemalige Armenhaus, mittlerweile die kommunale Galerie, in dem sie viele Modelle gefunden hat. In Worpswede steht das Haus, in dem die Pionierin des frühen Expressionismus und Otto Modersohn gewohnt haben. Und auf dem Friedhof der dortigen Zionskirche ist sie begraben, das Grabmal stammt vom Bildhauer Bernhard Hoetger. Das Dorf ist also der ideale Ort für die Auftaktausstellung zum 150. Geburtstag der Künstlerin.

Der steht eigentlich erst am 8. Februar 2026 im Kalender, das Datum, an dem Paula vor 150 Jahren in Dresden geboren wurde. Doch die vier großen Museen in Worpswede würdigen die berühmteste Künstlerin des Ortes schon ab dem 29. Juni und bis zum 18. Januar des kommenden Jahres mit einer großen Gemeinschaftsausstellung. Unter dem Titel „Der unteilbare Himmel“ sind Bilder von ihr mit Arbeiten von Weggefährtinnen zu sehen. Und Werke zeitgenössischer Künstlerinnen schlagen einen Bogen in die Gegenwart, fragen nach der Situation von Frauen heute.

Zu den Weggefährtinnen gehören Ottilie Reylaender, Martha Vogeler und vor allem ihre enge Freundin Clara Westhoff, die 1901 den Dichter Rainer Maria Rilke heiratet. Mit der Bildhauerin verbindet Paula ein besonderes Erlebnis: Angesichts des grandiosen Blicks vom Turm der örtlichen Zionskirche auf die herrliche Worpsweder Landschaft läuten die Freundinnen die Glocken, was damals als Feueralarm gilt. „Unfug und Mißbrauch“, notiert der Pastor im Kirchenbuch. Als „Strafarbeit“ muss Clara Westhoff die Kirche mit Engelsköpfen verzieren, Paula Becker hölzerne Pfeiler mit Blumenornamenten dekorieren.

Paula Becker kommt 1897 in das Dorf am Teufelsmoor und wird Schülerin von Fritz Mackensen. Von den männlichen Künstlerkollegen in Worpswede weitgehend verkannt, ist sie gezwungen, sich jenseits des etablierten Kunstbetriebs als Malerin selbst zu erschaffen. „Das Ringen um eine eigenständige Existenz als Künstlerin teilt sie mit vielen anderen begabten Frauen ihrer Zeit“, sagt Matthias Jäger, Geschäftsführer des Worpsweder Museumsverbundes.

Auf diesem Weg formt Paula Becker eine ganz eigene Bildsprache, revolutionär für ihre Zeit. Sie verzichtet in ihren Motiven auf erzählerische Elemente, Körper und Gesten schildert sie formelhaft, vereinfacht Gesichtsformen. 1899 sind einige ihrer Bilder erstmals in der Bremer Kunsthalle zu sehen, die der Maler Arthur Fitger in der „Weser-Zeitung“ mit den Worten kommentiert: „Für die Arbeiten reicht der Wörterschatz einer reinlichen Sprache nicht aus, und bei einer unreinlichen wollen wir keine Anleihe machen.“

Eine verstörende Kritik für die Malerin, die ihre Bilder noch am selben Tag aus der Kunsthalle abholt. Silvester 1899 bricht sie nach Paris auf, um sich in der damaligen Hauptstadt der Künste Impulse für ihre Arbeit zu holen. Das war lange vorher geplant, doch Fitgers Kritik gibt den letzten Anstoß. „Es gehört zur Pointe dieser Geschichte, dass einer der bittersten Momente ihrer jungen Laufbahn zur Triebfeder ihrer künstlerischen Entwicklung wurde“, sagt Frank Schmidt, Direktor des Paula Modersohn-Becker Museums in Bremen.

Im Jahr 1901 heiratet sie den Worpsweder Maler Otto Modersohn. Doch selbst ihr Ehemann zweifelt noch an ihrem eigenständigen Weg und ihren Arbeiten, die im vergangenen Jahr bei Ausstellungen in New York und Chicago vom Publikum gefeiert werden. So notierte Otto Modersohn im September 1903 in seinem Tagebuch: „Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben, Münder wie Wunden, Ausdruck wie Cretins.“ Und auch: „Rat kann man ihr schwer erteilen, wie meistens.“

Doch Paula Modersohn-Becker geht weiter ihren Weg, eigenständig, ist insgesamt zu vier Besuchen in Paris. Dort lässt sie sich inspirieren unter anderem von Manet, Courbet, Cézanne, van Gogh, Gauguin, zeichnet in Anatomie- und Aktkursen an der École des Beaux-Arts. Kurz vor ihrer letzten Paris-Reise schreibt sie am 17. Februar 1906 in einem Brief an Rainer Maria Rilke: „Ich bin Ich, und hoffe es immer mehr zu werden.“

„Sie hat ihren Stil gefunden, rückt ihre Figuren nah an uns heran“, beschreibt Frank Schmidt ihre künstlerische Handschrift. Er beleuchtet im Bremer Paula Modersohn-Becker Museum gerade in acht Sälen unter dem Titel „Short Stories“ Schlaglichter aus dem Leben der Namensgeberin seines Hauses. Dort ist in einem separaten Raum auch das Hauptwerk der Malerin zu sehen, das „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“. Ein ikonisches Motiv, zudem der erste Selbstakt einer Malerin in der Kunstgeschichte. „Das Bild ist ein Statement“, betont Frank Schmidt: „Da schaut uns eine Frau mit selbstbewusstem Blick an, die mit ihrem Körper zufrieden ist.“

Das umfangreiche Werk von Paula Modersohn-Becker, darunter allein rund 750 Gemälde, wurde erst nach ihrem Tod bekannt. Viele Arbeiten hatte sie im Atelier gehütet, ohne sie öffentlich zu zeigen. Sie wurde nur 31 Jahre alt, starb in Worpswede am 20. November 1907 wenige Wochen nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde an einer Embolie. Fast prophetisch hatte sie bereits im Juli 1900 ihrem Tagebuch anvertraut: „Ich weiß, ich werde nicht sehr lange leben. Aber ist das denn traurig? Ist ein Fest schöner, weil es länger ist? Und mein Leben ist ein Fest, ein kurzes intensives Fest.“

Von Dieter Sell (epd)