Zwei Wochen Überlebenskampf im Bergwerk
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Grubenunglueck ?Wunder von Lengede?
Lengede: Vor 60 Jahren ging das Grubenunglück in die Geschichte ein
Hannover, Lengede (epd).

Bei seiner rasanten Einfahrt auf 100 Meter Tiefe ahnt der Starkstrom-Monteur Adolf Herbst am 24. Oktober 1963 nicht, dass er lange kein Tageslicht mehr sehen wird. Zwei Wochen lang war Herbst beim Grubenunglück im niedersächsischen Lengede in der Tiefe eingeschlossen. 60 Jahre später ist der 80-Jährige der letzte Überlebende des „Wunders von Lengede“ und wird nicht müde, seine Erinnerungen minutiös zu teilen. „Man muss es erzählen und irgendjemandem kann man damit vielleicht helfen.“

Herbst sitzt in seinem Wohnzimmer in einer Wohnung in Hannover, neben sich im Rollstuhl seine pflegebedürftige Frau. Er hat vor sich einen Ordner mit Erinnerungsstücken ausgebreitet. Neblig und frostig sei es an dem Morgen damals gewesen, als er zum Schacht lief, sagt er und schüttelt dabei unwohl seine Schultern. Innerhalb einer Woche sollte der damals 20-Jährige im Schacht Mathilde im Eisenerz-Bergwerk bei Peine eine Pumpe reparieren. Am nächsten Tag wollte er sich in Hannover verloben und die Arbeit abschließen. Daher blieb er an diesem Donnerstag länger als geplant unter Tage.

Nach mehr als zehn Stunden ist er fertig. „Ich war froh, endlich kannst Du raus“, erinnert er sich an den Moment, um kurz vor 20 Uhr, als er sich auf den Weg zum Förderkorb macht. „Da habe ich schon einen unglaublichen Druck auf den Ohren gespürt.“ Etwa zur gleichen Zeit bricht unweit der Schachtanlage ein Klärteich ein. Rund 500.000 Kubikmeter Wasser stürzen in die Grube. Insgesamt 129 Bergleute sind bei der Arbeit, 79 können sich in den ersten Stunden retten.

Herbst kennt keinen der Männer, die ihm panisch entgegenlaufen und steigt mit anderen in eine Lok, die weiter nach oben fährt. Als die nicht mehr weiter kommt, versucht er hinter den flüchtenden Männern herzulaufen, die vor ihm im Dunkeln verschwinden. „Das Wasser kam in Kniehöhe in voller Breitseite mit einem riesigen Druck durchgeschossen.“ Auf Förderbändern suchen die Bergleute den Weg weiter nach oben.

Die Geschichte des Unglücks wird in einem von Professor Gerd Biegel neu gestalteten Museum „Wunder von Lengede“ im alten Verwaltungsgebäude dokumentiert. „Wichtig ist es, mithilfe von Fakten aus dem Wunder eine Erinnerung zu schaffen“, sagt der Historiker. Auch durch die Live-Berichterstattung von mehr als 500 Journalisten vor Ort erlangte das Unglück weltweite Berühmtheit.

Herbst und 20 weitere Männer finden schließlich Zuflucht: in einem stillgelegten, nicht gesicherten Stollen, einem sogenannten „Alten Mann“. In den ersten Tagen wurden zunächst sieben Bergleute gerettet. Mehr als eine Woche später beförderte eine Transportkapsel drei weitere Männer ans Tageslicht. Die übrigen 40 Vermissten, darunter der Elektriker Herbst, werden für tot erklärt. Neun Tage nach der Katastrophe werden die Sucharbeiten offiziell eingestellt. „An dieser Stelle war für uns das Leben beendet“, sagt Herbst.

Während in Lengede eine Trauerfeier für die angeblich Verstorbenen vorbereitet wird, kämpfen die 21 Männer im „Alten Mann“ in völliger Dunkelheit ums Überleben. Die herabfallenden Gesteinsbrocken sind oft tödlich und die Hilfeschreie geben sie bald auf. „Das war das Schlimmste, immer mit dieser Angst und Gefahr zu leben, dass sich die nächste Platte über Deinem Kopf löst“, sagt Herbst. Die verbliebenen Elf führen Abschiedsgespräche. Als alles gesagt war, hätten sie gebetet. „Wenn es zum Ende hingeht, ist der Glaube der letzte Anker, den man hat.“

Am zehnten Tag können Bergleute über Tage die Grubenleitung überzeugen, eine Suchbohrung im „Alten Mann“ zu starten. Der berechnete Bohrpunkt liegt auf Schienen und wird um zwei Meter verschoben, die Bohrung driftet um etwa zwei Meter ab. Sie trifft trotzdem, wie durch Zufall, auf den Hohlraum, in den die Männer sich geflüchtet haben.

„Schlagartig kam Wasser runter“, sagt Herbst und deutet dabei auf seinen Kopf. Alle sind überzeugt, dass sie nun doch ertrinken werden, bis sie das rettende Rohr ertasten. Für Herbst dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis ein Bergmann ein metallenes Messer aus seinem Stiefel bekommt, um lautstark gegen das Rohr zu schlagen: Ein Lebenszeichen senden, bevor es wieder weggezogen wird.

Minuten voller Angst und Verzweiflung folgen, bis nach kurzer Zeit eine Lampe herabgelassen worden sei, sagt Herbst, während er die Bewegung von oben nach unten nachahmt. „Das war, als ob einer ein Licht und damit das Leben anschaltet“, ergänzt der Elektriker: „Wir waren dem Tod geweiht und einer macht 'Klack', ihr seid noch nicht dran.“

Zur gleichen Zeit findet eine Trauerfeier für die angeblich Verstorbenen statt. Dem Pastor wird in der Kirche die Nachricht der elf Überlebenden überbracht. Die Männer werden über das schmale Rohr mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt. Erst mithilfe eines Kompressors aus Belgien gelingt die etwa 50 Zentimeter breite Rettungsbohrung.

Herbst wird als Vierter mit der sogenannten Dahlbusch-Bombe in rasantem Tempo nach oben befördert. Die Fotos vor ihm zeigen, wie der 20-Jährige mit Sonnenbrille aus der Kapsel getragen und in einen Rettungswagen gebracht wird. Dort schließt er auch seine künftige Ehefrau in die Arme. „Da war für mich die Welt in Ordnung, denn da begann mein zweites Leben.“

Herbst, der letzte Zeitzeuge, will mit seinen Erzählungen an die mutigen Retter, aber auch an die Verunglückten erinnern. „29 Männer haben es nicht geschafft, weil andere nicht aufgepasst haben.“ Für ihn sei es schmerzlich, dass das Unglück bis heute nicht aufgeklärt ist, kein Verantwortlicher benannt wurde und sich damals keiner dafür entschuldigte. Die Staatsanwaltschaft Hannover legte den Fall nach jahrelangen Verfahren zu den Akten. Der Klärteich sei am 1. Oktober 1963 betriebsbereit gewesen, weiß Herbst. „Am 24. Oktober saßen wir in der Falle.“

Für Historiker Biegel wird diese moralische Frage nicht im Museum beantwortet. Es sei aber ein Aufruf an die Wissenschaft, die Fragen nach den Ursachen, den Folgen und der Verantwortung zu erforschen und darzustellen. Etwa 50 Meter neben dem Museum, an der Stelle, wo Herbst und zehn weitere Männer aus der Tiefe geholt wurden, erinnert eine Gedenkstätte an das Unglück und die Verstorbenen. Auch in diesem Jahr wird es neben der Museumseröffnung dort eine Gedenkfeier geben. Die Grube in Lengede wurde in den 1970er Jahren stillgelegt.

Den Tag seiner Rettung, den 7. November, feiert Herbst jedes Jahr wie seinen zweiten Geburtstag. Von einem der Bohrmeister hat er sich einen Bohrkopf der Suchbohrung geben lassen und in dem schweren, eisernen Guss eine Kerze befestigt. Diese entzündet er einmal im Jahr. Lengede begleite das Ehepaar in seiner fast 60-jährigen Ehe ständig, sagt er und blickt dabei seine Frau an. „Jedes Jahr, wenn es wieder frostig und neblig wird, sagen wir, es ist wieder Lengede-Zeit.“

Von Charlotte Morgenthal (epd)