Meldestelle erfasst 100 antisemitische Vorfälle in Niedersachsen
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Rebecca Seidler, stellvertretende Vorsitzende der Liberalen Juedischen Gemeinde in Hannover
Leiterin: Spektrum des Judenhasses ist groß und überall anzutreffen
Hannover (epd).

In Niedersachsen sind im vergangenen Jahr 100 antisemitische Vorfälle dokumentiert worden. Unter anderem handelte es sich um judenfeindliche Angriffe, Bedrohungen und Sachbeschädigungen, wie die landesweite Recherche- und Informationsstelle (RIAS) am Montag in Hannover mitteilte. Erstmalig wurden der Meldestelle zwei Vorfälle extremer Gewalt bekannt: So wurde bei einer Versammlung den Angaben zufolge ein schwer behinderter Teilnehmer eines Gegenprotests angegriffen, der eine israelische Fahne hielt. Er wurde zu Boden gedrängt und verlor das Bewusstsein.

„Antisemitismus kann Jüdinnen und Juden in allen gesellschaftlichen Schichten und an fast allen öffentlichen und nicht öffentlichen Orten begegnen“, bilanzierte Projektleiterin Katarzyna Miszkiel-Deppe. Judenfeindlichkeit schränke die bürgerliche Freiheit ein und gefährde die Demokratie. Die bekannt gewordenen Vorfälle bildeten allerdings nur einen Teil der Wirklichkeit ab. Es sei von einem großen Dunkelfeld auszugehen.

Insgesamt erfasste die Dokumentationsstelle weniger Vorfälle als im Jahr 2021, als 138 antisemitische Ereignisse bekannt wurden. Daraus lasse sich aber nicht folgern, dass der Antisemitismus in Niedersachsen abgenommen habe, hieß es bei der Vorlage des Jahresberichts für 2022. Die Ursache sei vielmehr, dass es weniger Versammlungen in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und mit der Eskalation im israelisch-palästinensischen Konflikt gegeben habe. Dies seien „antisemitische Gelegenheitsstrukturen“ gewesen, die das Jahr 2021 geprägt hätten.

Die Zahl der Vorfälle mit einem Bezug zur Pandemie sank von 43 auf 21. Allerdings stieg die Zahl der Versammlungen mit antisemitischer Ausrichtung von 32 auf 35. Bei 35 Prozent der Vorfälle wurde die Erinnerung an den Holocaust abgelehnt oder bagatellisiert. Bei ebenfalls 35 Prozent wurden Verschwörungsmythen verbreitet, etwa von einer besonderen politischen oder wirtschaftlichen Macht von Jüdinnen und Juden.

In 34 Prozent der Fälle wurde die Bezeichnung Jude in einer Weise verwendet, als ob die so bezeichneten Menschen oder Institutionen nicht zur Gesellschaft dazugehörten. „Das Spektrum des Judenhasses ist groß“, sagte Miszkiel-Deppe: „Die Tatsache, dass jüdische Menschen täglich auch in Niedersachsen Anfeindungen und Bedrohungen ausgesetzt sind, ist inakzeptabel und darf keinesfalls als normal oder alltäglich betrachtet werden.“

Die jüdische Verbandsvorsitzende Rebecca Seidler sagte, im Alltag müssten Jüdinnen und Juden häufig antisemitische Sprüche aushalten, die keine große Aufmerksamkeit erführen. So müssten sie sich etwa am Kiosk anhören, die Juden hätten sich bestimmte Vorteile erkauft oder erschlichen. Solange noch Synagogen, jüdische Kindergärten und Seniorenheime durch die Polizei geschützt werden müssten, „können wir es uns nicht anmaßen zu sagen, dass Antisemitismus nur ein Randphänomen sei“, betonte Seidler, Leiterin des Landesverbandes der liberalen jüdischen Gemeinden.