
Krankenkassen dürfen bei der Erstattung von Kosten für Hörgeräte nicht zu streng auf den Preis schauen. Auch wenn ein über dem Festbetrag liegendes Hörgeräten das Hören des Patienten nur geringfügig verbessert, das kann eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenkasse begründen. Das hat das Bundessozialgericht in Kassel entschieden und die bislang strengere Kostenübernahmepraxis der Krankenkassen gekippt.
Kassel (epd). Schwerhörige Menschen können sich bei einem leicht besseren Hören durch die Nutzung eines teureren Hörgeräten die Kosten von ihrer gesetzlichen Krankenkasse erstatten lassen. Führt ein Hörgerät, das über dem von der Krankenkasse üblicherweise gewährten Festpreis liegt, zu einem prozentualen Zugewinn im Sprachverstehen, liegt ein relevanter Hörvorteil vor, der einen Kostenerstattungsanspruch begründen kann, urteilte am 12. Juni das Bundessozialgericht (BSG). Voraussetzung hierfür sei, dass im Vergleich zu den günstigeren Festbetragshörgeräten die teureren Modelle zu einem erheblichen Gebrauchsvorteil führen, erklärten die Kasseler Richter.
Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG und der Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses haben schwerhörige, gesetzlich Versicherte Anspruch auf eine Hörgeräteversorgung, „die nach dem Stand der Medizintechnik die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen gesunder Menschen erlaubt, soweit das im Alltagsleben einen erheblichen Gebrauchsvorteil bietet“. Das dient dem Behinderungsausgleich. Neben den Krankenkassen kann auch die gesetzliche Rentenversicherung für die Hörgeräteversorgung zuständig sein, wenn die Hörhilfe am Arbeitsplatz erforderlich ist.
Kassen deckeln Kostenübernahme per Festbetrag
Regelmäßig wird den Betroffenen indes nur ein Festbetrag für die Hörhilfen bezahlt. Dieser liegt bei bis zu 750 Euro pro Hörgerät. Sucht sich ein Versicherter für die beidseitige Versorgung zwei Hörgeräte aus, die über den Festbetrag liegen, werden die Mehrkosten nach der bisherigen Praxis der Krankenkassen nur dann übernommen, wenn mit den Hörhilfen „erhebliche Gebrauchsvorteile“ und ein um zehn Prozent besseres Hören erreicht wird als mit den Hörhilfen zu Festpreisen.
In den vom BSG entschiedenen Verfahren hatten die beiden schwerhörigen Kläger die Versorgung mit über den Festbetrag liegenden Hörgeräten verlangt. Im ersten Verfahren beliefen sich die Kosten für zwei Hörgeräte auf 5.660 Euro, von denen die Krankenkasse nur 1.500 Euro übernehmen wollte. Ein Test ergab, dass die Kläger mit den teureren Hörgeräten nur einen Hörzugewinn von fünf Prozent. Oder anders gesagt: Damit konnten sie jedes zwanzigste Wort nicht verstehen.
Hörzugewinn von zehn Prozent ist hinfällig
Erforderlich für eine Kostenübernahme sei aber ein Hörzugewinn von zehn Prozent, so die Krankenkasse mit Verweis auf ihr bisheriges Vorgehen. Eine volle Kostenübernahme sei nicht gerechtfertigt, weil es keine objektiven Funktionsvorteile gebe.
Das BSG kippte jedoch die bisherige Praxis der Krankenkassen. Die Versicherung sei rechtswidrig davon ausgegangen, dass ein Hörzugewinn von fünf Prozent nicht zu beachten sei. Jeder bei einem teureren Hörgerät gemessene prozentuale Hörzugewinn im Sprachverstehen - hier fünf Prozent - sei ein relevanter Hörvorteil, der einen Kostenerstattungsanspruch begründen könne. Hierfür müssen erhebliche Gebrauchsvorteile im Alltag vorliegen.
Besseres Hören muss belegt werden
Für das bessere Hören mit den teureren Geräten brauche es konkrete Anhaltspunkte. So könnte auch der in der Hilfsmittel-Richtlinie vorgesehene standardisierte APHAB-Fragebogen zur Bestimmung der Hörbehinderung Aufschluss über einen möglichen Hörzugewinn geben. Auch persönliche Aufzeichnungen des Versicherten, wie ein strukturiertes Hörtagebuch, könnten ein besseres Hören durch ein über den Festbetrag hinausgehendes Hörgerät belegen.
Bereits am 30. Oktober 2014 hatte das BSG geurteilt, dass Krankenkassen und Rentenversicherung Hörbehinderten nicht pauschal auf die Festpreise verweisen dürfen. Sie seien vielmehr zu einem umfassenden Behinderungsausgleich verpflichtet. Allein ein Hörgerät „zur Verständigung in Einzelgespräch unter direkter Ansprache“ reiche nicht aus. Gefordert sei vielmehr ein „möglichst vollständiger Behinderungsausgleich“, sprich ein Gerät, das auch die Verständigung in größeren Räumen und bei störenden Nebengeräuschen ermögliche.
Az.: B 3 KR 13/23 R und B 3 KR 5/24 R (Bundessozialgericht, Hörzugewinn)
Az.: B 5 R 8/14 R (Bundessozialgericht, Behinderungsausgleich)