Wie Menschen mit schweren Behinderungen selbstständig wohnen können
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Georg Lunemann

Zu einem selbstbestimmten Leben gehört es, in den eigenen vier Wänden leben zu können. Wie das auch für Menschen mit Behinderungen und hohem Unterstützungsbedarf gelingen kann, erläutert Georg Lunemann, der Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), in seinem Gastbeitrag für epd sozial.

Als Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) verfolgen wir seit vielen Jahren das Ziel, Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen - auch und besonders beim Thema Wohnen. Mit unserem Programm „Selbstständiges Wohnen“ (SeWo) unterstützen wir Menschen mit Behinderungen und hohem Unterstützungsbedarf dabei, in den eigenen vier Wänden zu leben - auch dann, wenn sie bislang auf besondere Wohnformen, früher als stationär oder Heim bezeichnet, angewiesen waren.

Seit nahezu zwei Jahrzehnten setzen wir uns mit sogenannten Intensiv Ambulanten Wohnkonzepten (IAW) für mehr Wohnvielfalt ein. Die bieten individuelle Zwischenlösungen, die weder dem klassischen stationären noch dem rein ambulanten System entsprechen. Sie greifen das zentrale Prinzip des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf: Nicht die Struktur bestimmt die Hilfe, sondern der individuelle Unterstützungsbedarf der Person bestimmt sie.

Mit dem SeWo-Programm, das 2017 mit der Gründung unserer Tochtergesellschaft „Selbstständiges Wohnen gGmbH“ startete, sind wir diesen Weg konsequent weitergegangen. Wir fördern gezielt innovative Wohnformen, die neben technischer Assistenz auch eine sozialräumliche Verankerung in den Stadtteilen und Dörfern umfassen. Der LWL stellt hierfür zehn Millionen Euro zur Verfügung - flankiert durch Fördermittel des Landes NRW, die eine bezahlbare Miete garantieren.

Gute Ideen aus der Praxis

Ein Ideenwettbewerb im Gründungsjahr 2017 markierte den Auftakt des Programms. Gesucht wurden praxisnahe Konzepte für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, die Teilhabe im Quartier ermöglichen und technische Unterstützung beim Wohnen einbeziehen. Die Vorschläge kamen sowohl von Trägern der Eingliederungshilfe als auch von Elterninitiativen. Fünf Projekte - in Bad Driburg, Münster, Lübbecke, Paderborn und Sassenberg - wurden bereits erfolgreich umgesetzt. Zwei weitere, thematisch spezialisierte Projekte, die von externen Investoren realisiert wurden, erhielten zusätzlich eine Förderung im Bereich der Quartiersarbeit. Über Kooperationsverträge zwischen der SeWo und sozialen Trägern soll eine passgenaue Belegung und Unterstützung gewährleistet werden, sodass der Wohnraum langfristig der vorgesehenen Zielgruppe zur Verfügung steht.

Quartier als Schlüssel zur Teilhabe

Ein Schwerpunkt des SeWo-Programms liegt in der Einbindung in das jeweilige Quartier - verstanden als überschaubarer, alltäglicher Lebensraum, in dem sich Menschen orientieren, versorgen, begegnen und in dem sie eingebunden sind. Dabei spielen nicht nur bauliche Rahmenbedingungen eine Rolle, sondern vor allem soziale Netzwerke, erreichbare Angebote und barrierefreie Teilhabemöglichkeiten.

Zur Quartiersentwicklung fördert die SeWo für zwei Jahre 50-Prozent-Stellen von sogenannten Fachkräften für Quartiers- und Teilhabegestaltung. Sie informieren bereits vor dem Einzug über das Projekt, stehen Nachbarn und Mieterinnen als Ansprechpartner zur Verfügung und bauen tragfähige Netzwerke vor Ort auf. Sie erschließen Freizeitangebote, ermöglichen Teilhabe über Gremienarbeit und fördern inklusive Prozesse im Sozialraum.

Technikunterstützung beim Wohnen

Ein zweiter zentraler Aspekt ist die technische Unterstützung der Menschen. Zunächst lag der Fokus auf kabelgebundener Haustechnik, wie etwa schlüssellosen Türöffnungen, die mobilitätseingeschränkten Personen mehr Selbstständigkeit ermöglichen. Diese Technik ist so gestaltet, dass sie über Tablets, Sprachsteuerung und individuell angepasste Hilfsmittel einfach bedienbar ist.

Inzwischen hat sich das Spektrum der Hilfen erweitert: Funkbasierte Systeme haben sich als zuverlässig und flexibel erwiesen. Sie lassen sich einfacher nachrüsten und individueller auf die Bedürfnisse der Mieterinnen und Mieter anpassen. Für die zukünftigen Projekte wird das das Mittel der Wahl sein.

Was 2017 noch als Zukunftsmusik galt, ist heute Realität - und der Fortschritt geht weiter. Die Entwicklungen in der technischen Assistenz, der digitalen Vernetzung und beim barrierefreien Wohnen schreiten rasant voran. Wir beobachten genau, wie diese Entwicklungen sinnvoll in die Lebenswelt von Menschen mit Behinderungen integriert werden können, ohne sie zu überfordern.

Herausforderungen bei der Umsetzung

So vielversprechend die Idee des selbstständigen Wohnens für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf ist - die praktische Umsetzung bringt auch Herausforderungen mit sich. Die größte Hürde ist vielerorts der Mangel an geeignetem Wohnraum. Barrierefreie Wohnungen in durchmischten Quartieren sind nach wie vor knapp, und geeignete Grundstücke in sozialräumlich attraktiven Lagen schwer zu finden.

Hinzu kommen aufwändige Abstimmungsprozesse zwischen unterschiedlichen Akteuren: Träger der Eingliederungshilfe, Bauherren, Kommunen und Fördermittelgeber müssen von Beginn an eng zusammenarbeiten.

Ein zusätzlicher Hemmschuh sind die stetig steigenden Baukosten. Insbesondere bei Neubauten mit barrierefreier Ausstattung übersteigt die Finanzierung häufig die Mittel der sozialen Wohnraumförderung, die in vielen Fällen nicht ausreicht. Auch die technische Ausstattung erfordert eine sensible Balance zwischen individuellen Bedürfnissen und wirtschaftlicher Tragfähigkeit.

Wohnen als Zukunftsfrage der Teilhabe

Dennoch bin ich überzeugt: Die Entwicklung von flexiblen und teilhabeorientierten Wohnformen ist ein zukunftsweisender Beitrag zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe. Sie stehen exemplarisch für ein modernes Verständnis von Inklusion, das Wahlfreiheit, Selbstbestimmung und soziale Teilhabe ernst nimmt.

Deshalb ist mir wichtig, dass wir als LWL auch künftig mutig neue Wege gehen - mit Innovationsgeist, Verantwortung und in enger Partnerschaft mit den Akteuren und Akteurinnen der Praxis. Denn: Selbstbestimmtes Wohnen darf kein Privileg sein. Es muss für alle Menschen möglich sein, die diesen Weg für sich wählen.

Dr. Georg Lunemann ist Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL).