Orthorexie: "Ich war auf der Suche nach der perfekten Ernährung"
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Mann am Gemüsestand eines Discounters

Gesunde Ernährung ist wichtig. Doch wenn sich der Alltag nur noch um Nährwerte und Inhaltsstoffe dreht und immer mehr Lebensmittel aus dem Speiseplan gestrichen werden, kann gesundes Essen zum Zwang werden. Der Fachbegriff: Orthorexie. Eine Betroffene berichtet, wie sie es da herausschaffte und heute anderen hilft.

Hamburg, Hornberg (epd). Madeleine Dähling verlor ihren Vater, als sie 13 Jahre alt war. Er litt an einer Herzerkrankung, musste dadurch viele Lebensmittel vermeiden und auf eine gesunde Ernährung achten. Dähling begann mit Sport und setzte sich zunehmend mit Ernährung auseinander. „Ein gesunder Lebensstil und Kalorienzählen waren für mich eine Ablenkung, da ich dadurch immer beschäftigt war. Außerdem konnte ich allen zeigen, dass es mir trotz der Trauer gut ging und ich alles im Griff hatte“, sagt die heute 33-Jährige, die in einem Dorf am Rand Hamburgs aufwuchs.

Zudem habe sie verhindern wollen, dass sie selbst oder ihre Mutter ebenfalls erkranken: „Ich dachte mir, wenn ich mich jetzt super gesund ernähre und auch meine Mutter davon überzeugen kann, kann ich sicherstellen, dass wir diese Erkrankung nie bekommen. Es war für mich ein Schutzwall.“ Sie baute sich also ein striktes Regelkonstrukt auf. Die Informationen hierfür zog sie aus Büchern, Magazinen und dem Internet. „Ich war auf der Suche nach dem Schlüssel zur perfekten Ernährung.“

Zunehmend strikteres Essverhalten

Durch ihr Studium der Ökotrophologie setzte sich die heutige Ernährungsberaterin noch mehr mit Ernährung auseinander - und mit Krankheiten. Das hatte auch Einfluss auf ihr eigenes Essverhalten. „Ich habe mich ernährt, als hätte ich bereits eine Erkrankung, damit ich eben gar nicht erst krank werde.“ Ihr Verhalten wurde strikter, zum Schluss war es Orthorexie.

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Andreas Wahl-Kordon aus dem badischen Hornberg behandelt seit vielen Jahren Patienten mit Ess- und Zwangsstörungen. „Bei Orthorexie handelt es sich um ein ausgeprägt gesundheitsorientiertes Essverhalten, das häufig mit strengen Ernährungsregeln einhergeht“, erläutert er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das gehe oft mit Magersucht einher. „Bei Menschen mit Orthorexie stehen jedoch nicht Kalorien im Mittelpunkt, sondern der gesundheitliche Aspekt“, erklärt der Experte. „Es werden also Lebensmittel ausgeschlossen, die als krebserregend gelten, es wird penibel auf Inhaltsstoffe geachtet, Nährwerte werden eingehend studiert.“ Eine mögliche Folge: Mangelernährung.

Die Unterscheidung eines gesunden Essverhaltens von einem zwanghaften sei nicht ganz einfach, sagt Wahl-Kordon: „Heutzutage beschäftigen sich viele Menschen mit gesunder Ernährung. Das liegt im Trend und wird gesellschaftlich gefördert.“ Betroffene würden häufig nicht erkennen, dass ihr Verhalten zwanghaft ist. „Vielleicht erhalten sie sogar Lob und Komplimente für ihre Disziplin.“ Entscheidend sei der Faktor Kontrolle. „Sie machen keine Ausnahmen, müssen sich streng an ihre Ernährungsregeln halten, bekommen Panik, wenn sie davon abweichen müssen.“

Ernährung als Lebensmittelpunkt

Als Folge dessen ziehen sich Betroffene immer mehr zurück, sagen Treffen mit Freunden und Familie ab. „Sie vermeiden Restaurantbesuche, da sie nicht genau wissen, welche Inhaltsstoffe die Gerichte haben und wie sie zubereitet werden“, beschreibt Wahl-Kordon. Zudem würden sich Menschen mit Orthorexie in bedenklichem Maße mit Ernährung beschäftigen: „Das nimmt viel Zeit in Anspruch. Gesunde Ernährung wird für sie zum Lebensmittelpunkt.“

Persönlichkeitsmerkmale wie ausgeprägter Ehrgeiz und Leistungsorientierung, aber auch Perfektionismus können die Entwicklung einer Zwangsstörung begünstigen. „Der Zwang, alles perfekt machen zu wollen, überträgt sich auch aufs Essverhalten. Betroffene sind häufig sehr streng zu sich selbst. Das Paradoxe ist: Menschen mit Orthorexie wollen um jeden Preis gesund sein, dabei ist ab einem bestimmten Punkt das genaue Gegenteil der Fall.“

Dählings zwanghaftes Essverhalten schränkte sie im Alltag zunehmend ein. Freundschaften rückten in den Hintergrund, Lebensmitteleinkäufe dauerten oft mehrere Stunden. „Es hat einen wahnsinnig großen Teil meines Lebens eingenommen. Wenn ich mit Freunden essen gegangen bin, was ohnehin nicht häufig vorkam, habe ich tagelang vorher die Speisekarte studiert und geplant, was ich bestellen kann“, erinnert sich Dähling. Selbst auf Reisen hielt sie an ihren strengen Ernährungsregeln fest. Auf Flügen und langen Autofahrten schleppte sie Tupperware mit vorbereiteten Gerichten mit sowie eine Packung Hirse, Proteinpulver und Nahrungsergänzungsmittel. „Bei mir ist immer die Angst mitgereist, dass ich im Urlaub meine gesunde Ernährung nicht weiter durchziehen kann.“

Körperliche Folgen

Nicht nur die gedankliche Vereinnahmung, auch die körperlichen Folgen ihrer strikten Ernährungsweise zeigten sich schnell. „Ich hatte zu dieser Zeit nur etwa zweimal im Jahr meine Regelblutung. Da ich aber kein Untergewicht hatte, hat mich mein Frauenarzt nie darauf angesprochen.“ Als sie anfing, wieder Kohlenhydrate zu essen, verschwanden ihre Zyklusstörungen, sie hatte mehr Energie. Vor rund drei Jahren begann sie, sich intuitiv zu ernähren, ohne Regeln und Verbote. „Ich habe gelernt, dass es mir guttut, auf meinen Körper zu hören. Es war ein sehr langer Weg.“

Heute ist sie von ihrer Orthorexie geheilt, hilft als Ernährungsberaterin anderen. Zwanghafte Gedanken rund um Ernährung habe sie nicht mehr. „Wenn ich heute eine Pizza esse, dann bin ich manchmal eher erstaunt, wie viel sich da verändert hat und wie leicht es mir fällt.“ Das habe ihr viel Lebensqualität zurückgegeben. „Erst seit ich nicht mehr zwanghaft gesund esse, fühle ich mich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich gesund.“

Stefanie Unbehauen