
Der Streit vor den Gerichten dauert schon fast 20 Jahre. Jetzt muss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entscheiden, ob deutsche Ehepaare mit Kindern bei der Berechnung der Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung diskriminiert werden.
Berlin, Straßburg (epd). Einst waren es fast 2.000 Familien mit Kindern, die den langen Weg durch die Gerichtsinstanzen antraten. Motto der Elternklagen-Kampagne 2015: „Wir jammern nicht, wir klagen“. Sie legten Widerspruch gegen die Höhe ihrer Sozialversicherungsbeiträge ein und stritten vor Sozial- und Oberlandesgerichten für eine Beitragsreform - um ähnlich wie beim Steuerrecht auch bei den Sozialversicherungen Kinderfreibeträge gewährt zu bekommen.
Übrig ist nur noch eine Familie mit vier minderjährigen Kindern aus Waldshut-Tiengen, die nun mit Hilfe des Deutschen Familienverbands (DFV) und des Familienbunds der Katholiken (FDK) Beschwerde vor dem Europäischen Menschengerichtshof (EGMR) in Straßburg eingelegt hat. Sie wendet sich dagegen, dass ihr Einsatz und finanzieller Aufwand bei der Erziehung ihrer Kinder in der Beitragserhebung zur Renten- und Krankenversicherung nicht angemessen berücksichtigt wird. Vertreten werden die Beschwerdeführer vom früheren hessischen Landessozialrichter Jürgen Borchert.
Kritik: Beitragsberechnung ignoriert Erziehungsaufwand
Um was geht es? Die Verbände verweisen darauf, dass Eltern mit minderjährigen Kindern de facto doppelt in die Sozialversicherungen einzahlen: Von ihnen fließen nicht nur Geldbeiträge in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, sie sorgen durch die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder überhaupt erst für die Zukunftsfähigkeit des solidarischen Generationenvertrags. Ohne die Beitragszahlerinnen und -zahler von morgen würden die Sozialsysteme nicht funktionieren. „Bisher wird die Bedeutung der Kindererziehung nur völlig unzureichend berücksichtigt“, erläutert Matthias Dantlgraber, Bundesgeschäftsführer des Familienbunds.
Aber: Das Bundesverfassungsgericht folgte 2022 dieser Argumentation in der Renten- und Krankenversicherung nicht. Einen Teilerfolg konnten die Kläger immerhin verbuchen: In der Pflegeversicherung gab das Gericht den Familien recht. „Dadurch bezahlen Millionen Familien seit August 2023 weniger Pflegeversicherungsbeiträge - im Durchschnitt 150 Euro weniger pro Jahr und Kind“, so der FDK.
Gericht sieht Beiträge nicht als Grund für Altersarmut
Das Bundesverfassungsgericht befand, dass die elterlichen Nachteile durch die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rente sowie die beitragsfreie Mitversicherung in der Krankenversicherung ausgeglichen seien. Dass die Beitragsstrukturen die entscheidenden Ursachen für Kinder- und Familienarmut sind, sei kein Problem der Sozialversicherung, so das Verfassungsgericht. Familien könnten sich schließlich an die Jobcenter wenden oder Sozialhilfe beziehen. Ebenso könnten Mütter der drohenden Altersarmut durch eine höhere Erwerbsbeteiligung entgegenwirken.
Dem widerspricht Borchert ganz entschieden: „Der Abgabenzwang zur Sozialversicherung - und nicht etwa eine Lawine der Arbeitslosigkeit - ist die wesentliche Ursache der Verarmung sozialversicherter Eltern“, sagte der Jurist. Familien mit einem Durchschnittseinkommen und zwei Kindern landeten netto unweigerlich durch die Abgabenlast der Sozialversicherung unter dem Existenzminimum: „Mit einem entsprechenden Kinderfreibetrag in der Sozialversicherung könnten finanzielle Belastungen abgefedert werden, ohne dass Familien auf Sozialleistungen angewiesen sein müssten.“
Forderung nach Kinderfreibetrag bei Sozialbeiträgen
„Durch die beitragsrechtliche Ausgestaltung der gesetzlichen Sozialversicherung mit ihren finanziell überfordernden Wirkungen werden Familien unter das Existenzminimum gedrückt und in ihrem Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt“, heißt es in einer Mitteilung der Verbände über die Beschwerde in Straßburg. Die niedrige Rentenhöhe und die Altersarmut von Müttern zeigten schließlich die tatsächliche Geschlechterungleichheit und die verbotene Diskriminierung der Lebensleistungen von Müttern.
„Als Ausgleich für diese Schieflage braucht es in der Sozialversicherung einen Kinderfreibetrag, der sicherstellt, dass auf das Existenzminimum von Kindern keine Sozialabgaben erhoben werden. Im Steuerrecht ist das eine Selbstverständlichkeit und verfassungsrechtliche Vorgabe“, sagt Sebastian Heimann, Bundesgeschäftsführer des DFV.
„Elternleistungen werden diskriminiert“
„Bei der Menschenrechtsbeschwerde in Straßburg geht es nicht darum, Eltern zu privilegieren, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss von 2022 behauptet, sondern darum, die Beitragsstrukturen mit der Wirklichkeit des Dreigenerationenvertrags in Einklang zu bringen“, sagt Borchert. „Nicht die Beiträge der Vergangenheit, sondern nur die zukünftigen Beiträge der Nachwuchsgeneration können den Alten einen sorgenfreien Lebensabend verschaffen.“ Doch wer keine Kinder großziehe, baue seine Zukunft auf die Kinder anderer Leute. Was Eltern mit ihren Anstrengungen während der Kindererziehung säten, ernteten zu wesentlichen Teilen andere. Diesen Zusammenhang missachte das Beitragsrecht der Sozialversicherung und diskriminiere die Elternleistungen, führte Borchert weiter aus.
Niemand kann vorhersagen, wie Straßburg entscheidet. „Das Gericht könnte einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention feststellen“, sagte FDK-Sprecherin Katja Weniger dem Evangelischen Pressedienst (epd). Zwingend gewonnen sei damit aber noch nichts: „Der Gesetzgeber verfügt über einen eigenen Spielraum, wie er damit umgehen möchte.“