Medienabhängigkeit nimmt auch bei Erwachsenen deutlich zu
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Manche kommen vom Bildschirm nicht mehr los.

Zunehmend mehr Menschen fallen Beratungs- und Hilfestellen mit ihrem problematischen Mediennutzungsverhalten auf. Das öffentliche Bewusstsein für diese Störungen ist oft nur gering, ebenso dürftig ist die Hilfeinfrastruktur.

Augsburg, Hamburg (epd). Videospiele können dank Künstlicher Intelligenz (KI) auf die Vorlieben des Gamers zugeschnitten werden. Chatbots reden mit ihm - vertrauter als der beste Freund. Das birgt Gefahren. Zunehmend mehr Menschen verlieren sich in virtuellen Welten. Sie kommen nicht mehr vom Gamen los, schaffen es kaum 20 Minuten lang, das Handy aus der Hand zu legen, oder müssen in jeder freien Minute Pornos gucken.

„Die Nachfrage nach Beratung steigt stark an“, bestätigt Niels Pruin, Leiter des Fachgebiets Medien- und Internetsucht des Caritasverbands der Diözese Augsburg. Das sieht er zum Beispiel an der Donauwörther Caritas-Einrichtung „Café Connection“ für junge Suchtgefährdete. Jeder zweite Klient kommt inzwischen wegen einer Medienproblematik. Die einen sind selbst betroffen, die anderen haben ein Familienmitglied, das exzessiv konsumiert.

Oft nur diffuses Symptomempfinden

Allerdings sitzen die wenigsten Betroffenen vor dem Berater und erklären: „Ich bin internetsüchtig.“ Die Klienten, berichtet Pruin, hätten eher ein diffuses Gefühl, nicht mehr auf dem richtigen Weg zu sein: „Sie äußern, dass sie traurig, einsam oder depressiv sind.“ Dabei ahnen sie, dass das mit ihrem Medienkonsum zu tun haben könnte. In nahezu allen Fällen sieht der Fachgebietsleiter neben der Medienkonsumstörung weitere psychische Auffälligkeiten. Etwa ADHS oder Autismus.

Internetsucht ist Dauerthema seit mindestens zehn Jahren. Die Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen schlug auf Basis einer Studie bereits im Juni 2015 Alarm. Rund 300.000 Kinder und Jugendliche, hieß es damals, nutzten das Internet exzessiv.

Valide aktuelle Zahlen zu erhalten, ist schwierig. Das Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit verweist auf Anfrage auf Ergebnisse der Drogenaffinitätsstudie 2023 zur Computerspiel- und Internetnutzung der 12- bis 25-Jährigen. „Für den Zeitraum von 2011 bis 2023 finden sich Hinweise auf ein häufigeres Auftreten von Problemen aufgrund der Internetnutzung“, heißt es darin. Jugendliche waren 2023 durchschnittlich 26 Stunden pro Woche online. In der Gruppe der 18- bis 25-Jährigen hielten sich Frauen wöchentlich 27 und Männer 29 Stunden im Internet auf.

Zuspitzung seit Corona

Seit der Corona-Krise spitzt sich die Problematik zu. „Viele unserer Klienten sagen, dass es da bei ihnen richtig massiv geworden ist“, sagt Pruin. Verschärft wird die Problematik durch KI. Denn dadurch lassen sich individuell auf das Spielerverhalten zugeschnittene Spielwelten erstellen. Was Gamen noch attraktiver macht. Für immer mehr Kids wird der Austausch mit dem Chatbot befriedigender als das Zusammensein mit Freunden. Der Chatbot hat immer was zu sagen, gibt immer Antwort, ist stets verfügbar und nie schlecht gelaunt.

Eine besonders rasante Zunahme verzeichnet Pruin beim Pornografiekonsum. Durch KI-Porno-Generatoren lassen sich inzwischen Bilder für noch so bizarre sexuelle Obsessionen erstellen. Der Suchtherapeut leitet eine bundesweite Online-Selbsthilfegruppen für Pornosüchtige: „Seit einigen Jahren werde ich förmlich überrannt.“ Aktuell erhält er im Durchschnitt zwei Anfragen pro Werktag.

Viele Eltern wissen laut Pruin nicht mehr, was sie machen sollen, weil ihr Kind nächtelang zockt. Der Therapeut hatte es schon mit extremen Fällen zu tun: „Junge Leute wurden als völlig vermüllten Wohnungen zu ihren Eltern geholt, sie waren ungepflegt, hatten sich tagelang nicht mehr gewaschen.“

Bewegung für smartphonefreie Kindheit

Auch Benjamin Grünbichler, Leiter von „neon - Prävention und Suchthilfe Rosenheim“, beobachtet durch Schulbesuche und Workshops, dass die Problematik Mediensucht zunimmt. Junge Menschen, appelliert er, brauchen angesichts immer faszinierenderer Möglichkeiten im Cyberspace einen besonderen Schutz. Unter 14 Jahren sollten sie nach seiner Überzeugung kein eigenes digitales Endgerät besitzen. Vor diesem Hintergrund unterstützt er die Elternbewegung „smarter start ab 14“ für eine smartphonefreie Kindheit. Die Petition der Initiative wurde von bisher 50.000 Bürgern unterzeichnet.

Suchtherapeuten sind weit davon entfernt, Medien an sich zu verteufeln. Es spreche nichts dagegen, sagt Benjamin Grünbichler, mal für ein paar Stunden in andere Welten abzutauchen. Darum gingen Menschen ja auch ins Kino: „Allerdings ist der Film nach zwei Stunden vorbei.“ Videospiele endeten heute nicht mehr: „Sie sind so aufgebaut, dass man sich aktiv rausbegeben muss.“ Wegen der immer stärkeren Sogwirkung falle dies immer schwerer.

In Hamburg hat es Klaus Wölfling mit Menschen zu tun, die eine Form von Internetsucht entwickelt haben: „Wir können klar sagen, das nimmt zu.“ 120 stationäre Plätze für Suchtkranke stehen in der von ihm geleiteten Rehaklinik der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld zur Verfügung. Noch bis vor ein paar Jahren gab es hier keine Medienabhängigen. Inzwischen sind bis zu 20 Prozent der Therapieplätze von Menschen besetzt, die exzessiv gamen oder online wetten. Ab Herbst wird es ein erstes ambulantes Angebot für Menschen mit Pornografiesucht geben.

Zu wenige Therapieplätze

Der Spielsuchtforscher wünscht sich dringend mehr Therapieplätze für Menschen mit einer Form von Medienabhängigkeit. Bis zu fünf Prozent der Bevölkerung, schätzt er, sei inzwischen betroffen. Der Bedarf könne bei weitem nicht gedeckt werden. Vor allem vulnerable Menschen liefen Gefahr, sich in virtuellen Welten zu verlieren. Durch die gesellschaftlichen Krisen wiederum wächst die Vulnerabilität.

Bei der Pornosucht kann der Drang so übermächtig sein, dass er sogar während des Berufs ausgelebt werden muss. Die Partnerschaft leidet. Laut Wölfling wird bei einer Pornografie-Nutzungsstörung bis zu vier Stunden lang täglich konsumiert. Spielsüchtige verbringen mitunter bis zu zwölf Stunden am Tag mit Gamen. Um davon loszukommen, brauche es einen stationären Entzug, wie bei einer Alkohol- oder Kokainabhängigkeit.

Besondere Suchtform kaum präsent

Junge Frauen, die exzessiv Social Media konsumieren und sich dadurch dauernd mit anderen vergleichen, leiden häufig unter Depressivität, Körperschema- oder Essstörungen. Laut Kai Müller vom Fachverband Medienabhängigkeit ist diese Form von Internetsucht kaum präsent. Dabei sind vor allem junge Frauen häufig und teilweise sehr stark betroffen.

Zusammen mit der Mainzer Uni-Ambulanz für Spielsucht entwickelte der Fachverband das Frühinterventionsprogramm „net_WORKOUT“. Anfang Juni wurde es bei einem Suchtkongress in Wiesbaden vorgestellt. Ab September sollen Berater und Pädagogen geschult werden. Ende des Jahres, so die aktuelle Planung, soll es Frauen mit exzessivem Social-Media-Konsum angeboten werden.

Pat Christ