
Die Caritas kritisiert die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung auf dem Wohnungsmarkt. Weil Vermieter in ihnen ein „erhöhtes Risiko“ sähen, hätten sie geringe Chancen auf eine bezahlbare Wohnung, sagt Wolfgang Tyrychter, Vorsitzender des Fachverbandes Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie CBP, im Interview mit epd sozial. Außerdem rügt er, dass besondere Wohnformen zu wenig gefördert werden.
Berlin (epd). Wolfgang Tyrychter, Chef des Fachverbandes CBP, sieht in der Wohnsituation von Menschen mit Behinderung ein „soziales Drama“. Auch deren Eltern, die sich ein Leben lang um ihr betreuungsbedürftiges Kind gekümmert hätten und daher auf Erwerbseinkommen verzichten mussten, stünden im Alter oft schlecht da. Tyrychter stellt fest: „Viele Familien befinden sich in einer unglaublichen Überforderung.“ Die Fragen stellte Markus Jantzer.
epd sozial: Ihr Fachverband hat ein Gutachten zur Wohnsituation von Menschen mit Behinderung in Auftrag gegeben. Die Studie liegt nun vor. Was sind die zentralen Ergebnisse der Untersuchung?
Wolfgang Tyrychter: Die Studie wurde von Matthias Günther vom Pestel Institut Hannover erstellt und konzentriert sich auf die Wohnsituation der Menschen mit Behinderung, die Leistungen der Eingliederungshilfe nach SGB IX erhalten. Die Studie belegt, dass diese Menschen kaum Zugang zu Wohnraum haben.
epd: Was sind die Gründe?
Tyrychter: Laut der Studie gibt es in Deutschland keine diskriminierungsfreie Vermietung. Menschen mit Behinderung gehören, so heißt es darin wörtlich, „für viele Vermieter als “erhöhtes Risiko„ zu Personengruppen, die als Mieter nicht berücksichtigt werden. Neben dem allgemeinen Wohnungsmangel fehlen vor allem passende Wohnungen hinsichtlich Größe und Preis für Menschen mit Behinderung. Damit werde ein großer Teil der Menschen mit Behinderung vom Wohnungsmarkt “faktisch ausgeschlossen".
epd sozial:* Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum auf dem Wohnungsmarkt trifft in Deutschland viele Menschen und verschiedene gesellschaftliche Gruppen. Wie wirkt er sich konkret auf Menschen mit Behinderung aus? Welche Nachteile haben sie unter Umständen, die andere Gruppen nicht haben?*
Tyrychter: Der Zugang zum bezahlbaren Wohnraum wird durch die Höhe des Einkommens geregelt. In der Eingliederungshilfe sind Menschen mit Behinderung auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen und damit durch dieses niedrige Einkommen von bezahlbarem oft Wohnraum ausgeschlossen. Durch die in der Regel dauerhafte Erwerbsminderung haben Bezieherinnen und Bezieher der Eingliederungshilfe auch keine Möglichkeit, ihr Einkommen durch Erwerbsarbeit zu steigern.
epd sozial: Menschen mit Behinderung suchen nicht nur auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt nach Mietwohnungen. Sie suchen auch nach Wohnraum in betreuten Wohngemeinschaften sowie in besonderen gemeinschaftlichen Wohnformen der Eingliederungshilfe. Wie ist die Lage in diesem Bereich?
Tyrychter: Etwa 191.000 Menschen mit Behinderung leben in betreuten Wohngemeinschaften, in denen eine 24-stündige Assistenz sichergestellt ist. Mehr als die Hälfte dieser Personen ist älter als 50 Jahre. Aufgrund der fehlenden Investitionsprogramme der Länder können diese Immobilien nicht modernisiert und auch nicht neu gebaut werden. Die Anzahl der Plätze in betreuten Wohngemeinschaften geht außerdem durch die Erhöhung der rechtlichen Standards in den Heimordnungen zurück. Die höheren Anforderungen können in den bestehenden Immobilien oft nicht mehr erfüllt werden können, eine Modernisierung der Bestandsimmobilien wird zudem finanziell nicht gefördert.
epd sozial: Hat sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt für Menschen mit Behinderung in den vergangenen Jahren noch verschärft?
Tyrychter: Ja, die Situation verschärft sich durch die weiter sinkende Anzahl der Sozialwohnungen, die fehlende Modernisierung von vorhandenen Immobilien mit betreuten Wohngemeinschaften und die gleichzeitig steigende Anzahl der Menschen, die auf öffentlich geförderten Wohnraum angewiesen sind.
epd sozial: Sie nennen die Wohnsituation von Menschen mit Behinderung ein „soziales Drama“. Was genau meinen Sie damit?
Tyrychter: Das soziale Drama hat viele Gesichter. Einerseits können junge Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbehinderung nicht in eine eigene Wohnung oder - mangels Plätzen - in eine betreute Wohngemeinschaft umziehen. Sie sind daher darauf angewiesen, weiterhin und wahrscheinlich lebenslang im Haushalt ihrer Eltern zu leben. Häufig muss weiterhin ein Elternteil die Betreuung und Pflege übernehmen und kann deshalb nicht berufstätig sein. Zum anderen können alt gewordene Eltern, die ihre inzwischen erwachsenen Kinder mit Behinderung fast ein Leben lang betreut haben, oftmals keinen Platz in betreuten Wohngemeinschaften finden, wenn sie selbst pflegebedürftig werden. Sie können dann weder die Betreuung ihrer erwachsenen Kinder noch die eigene Pflege sicherstellen. Viele Familien befinden sich in einer unglaublichen Überforderung.
epd sozial: Ihr Fachverband fordert eine gezielte Förderung des Wohnraums für Menschen mit Behinderung. Was genau verlangen Sie?
Tyrychter: Unsere Forderung lautet, dass jährlich 13 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsneubau mit einer festen Quote von zehn Prozent für Wohnraum für Menschen mit Behinderung zur Verfügung gestellt werden. Die gezielte Förderung des Wohnraums in betreuten Wohngemeinschaften und besonderen Wohnformen muss hinzukommen. Darüber hinaus muss die neue Bundesregierung private Investorenmodelle zur Schaffung von Wohnraum für Menschen mit Behinderungen zulassen und unterstützen.