Theologe Claussen: Zeitgefühl in der Bibel kannte keine Langeweile
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Bald werden die Uhren wieder um eine Stunde zurückgestellt.
Hannover (epd).

In der Nacht zum 26. Oktober werden in vielen europäischen Ländern die Uhren um eine Stunde zurückgestellt. Wie sich das Zeitempfinden in der Moderne verändert hat, erläutert der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen. Der promovierte Theologe erklärt, warum die Bibel keine Langeweile kennt, Menschen damals ein anderes Maß für Glück hatten und was daran heute noch attraktiv sein kann.

epd: Herr Claussen, welche Vorstellungen hatten Menschen zu biblischen Zeiten von der Zeit, und wonach haben sie diese bemessen?

Johann Hinrich Claussen: In biblischen Zeiten war eine religiöse Ordnung der Zeit von großer Bedeutung. Sie wurde geprägt durch die Sieben-Tage-Woche und durch den Rhythmus, den die Jahreszeiten und die religiösen Hauptfeste vorgegeben haben. Es gibt Theorien, wonach die Menschen in der biblischen Zeit eher zyklisch gedacht haben, also in Zeitkreisen. Im Gegensatz dazu hat die Moderne einen linearen Zeitbegriff geprägt, der mit einem Fortschrittsgedanken verknüpft ist. Das vormoderne Denken kennt die Vorstellung, dass das Voranschreiten von Zeit zugleich Fortschritt bedeutet, hingegen nicht.

Eines jedoch verbindet das alte mit dem neuen Zeitdenken: Das apokalyptische Denken scheint wieder auf dem Vormarsch, also die Vorstellung, dass man auf ein Unheil zugeht, auf eine letzte Katastrophe.

epd: Da klingt etwas Schicksalsergebenes an.

Claussen: Schicksalsergebenheit würde ich nicht als Stichwort aufrufen. Aber es gibt ein gesteigertes Krisenbewusstsein. Viele Krisen verbinden sich und haben eine erstaunliche Dynamik. Das löst Gefühle von Wehr- und Hilflosigkeit aus. Es gibt die Erwartung, dass die Prozesse nicht einfach so weiterlaufen, sondern auf eine krisenhafte Entscheidung zulaufen, die am Ende von Gott aufgelöst wird. Dabei kommen zum Teil befremdliche Vorstellungen zum Ausdruck, etwa dass dann ein Gericht die Guten von den Bösen trennt. Für dieses Denken gibt es zwar biblische Vorbilder. Aber in einer derart massiven politischen Zuspitzung, wie wir das etwa in den USA nach der Ermordung von Charles Kirk gesehen haben, ist das schon problematisch.

epd: Welche Rolle hat Gott im biblischen Zeitempfinden gespielt, zum Beispiel als Zeitenlenker?

Claussen: Er hat eine ganz zentrale Rolle gespielt. In vormodernen, biblischen Zeiten ist man nicht nur unter Christen, sondern auch in angrenzenden religiösen Kulturen fest davon überzeugt gewesen, dass die menschliche Geschichte von Gott geführt wird. Gerade in der biblischen Tradition ist das Wirken Gottes in Heil und Unheil von großer Bedeutung. Dabei geht es um den Glauben, dass der Gott Israels zugleich der eine Gott der ganzen Welt ist.

epd: Berichtet die Bibel auch von Zeitdruck oder Langeweile?

Claussen: Langeweile in unserem heutigen Sinne kannten die Menschen der Bibel nicht, weil sie auch die Ablenkung und die Schnelligkeit und Dynamik unseres Lebens nicht kannten. Ganz zentral für das biblische Glücksdenken ist die Vorstellung von Beständigkeit. Wir verbinden ja häufig Glück und Zufriedenheit mit Wechsel, mit Veränderung. Wenn man in der Bibel nachschaut, findet man eher so ein Bild wie im ersten Psalm: Das Glück des Menschen besteht darin, zu sein wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der nicht vergeht und verweht, sondern Bestand hat. Es gibt in der Bibel eine ganz andere Wertschätzung von Dauer und Stabilität, von einem Verwurzeltsein, und eben nicht ein „Jetzt kommt gleich das nächste große Ding“.

epd: Wäre das etwas, was uns heute auch wieder guttäte?

Claussen: Ja. Dieses Nachdenken darüber, dass langfristige Zufriedenheit mehr wert ist als kurzfristige Bedürfnisbefriedigung, dass einem das selbst mehr gibt, aber auch besser für die Umwelt und für andere Menschen ist, das ist ein bis heute wichtiges Erbe des biblischen Weisheitsdenkens.

epd: Wer im Mittelalter anfing, eine Kirche zu bauen, wusste, dass er sie niemals fertig sehen würde. Könnte auch das ein Beispiel für ein solches Denken sein?

Claussen: Die Vorstellung im Mittelalter war: Wir bauen jetzt nicht nur für uns selbst, sondern wir beginnen ein Werk für die Ewigkeit. Die erste Generation hat den Altarbereich gebaut, die nächste und übernächste dann vielleicht das Kirchenschiff und den Turm. Heute denken wir in der Politik gerade mal in Legislaturperioden und in der Wirtschaft von Quartalsbericht zu Quartalsbericht. Demgegenüber finde ich das Bild einer mittelalterlichen Kathedrale, die das Werk vieler Generationen ist, äußerst bewegend und inspirierend.

epd: Ein modernes Projekt, das diesen Gedanken aufgreift, ist dann vielleicht das Orgelstück von John Cage in Halberstadt, das sich über einen Zeitraum von 639 Jahren erstrecken soll?

Claussen: Ja, ich habe die John-Cage-Kirche in Halberstadt letztes Jahr endlich mal angeschaut und war hingerissen. Anfangs dachte ich, das ist nur eine spinnerte Idee. Nein, das ist ein wunderbares Kirchenkunstwerk, das einen demütig werden und über den Tellerrand der Aktualität hinausschauen lässt.

epd-Gespräch: Karen Miether