
Die dicken, teils in Leder gebundenen Folianten lagerten jahrzehntelang sorgfältig unter Verschluss. Kein Heimat- oder Ahnenforscher durfte je darin blättern, nicht einmal die Mitglieder des Kirchenvorstands kannten den Inhalt. Lediglich Pfarrerinnen und Pfarrer konnten nachlesen, was ihre Amtsvorgänger über die Entwicklungen in der Gemeinde notiert hatten. Auf dem Gebiet der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) waren noch bis Ende 2023 alle Pfarrpersonen verpflichtet, eine vertrauliche Chronik zu führen und beim Wechsel auf eine neue Stelle oder in den Ruhestand an die Nachfolger weiterzureichen.
Die Pflicht zum Führen einer Pfarrchronik war wesentlich älter als die Landeskirche, wie die Leiterin des EKHN-Zentralarchivs in Darmstadt, Ute Dieckhoff, berichtet. Die Vorgabe geht noch auf behördliche Anordnungen aus dem 19. Jahrhundert zurück, als die Landesfürsten zugleich formelle Oberhäupter der evangelischen Kirche auf ihrem jeweiligen Territorium waren: „Es ging dabei primär nicht um eine kontinuierliche Geschichtsschreibung, sondern um die Wahrnehmung einer gewissen Berichtspflicht des Pfarrers in seiner Funktion als Staatsbeamter über die Entwicklung der sittenpolizeilichen und später auch politischen und weltanschaulichen Zustände in der Gemeinde.“
Pflicht auch aus Sparzwängen abgeschafft
Während des Ersten Weltkrieges wurden in Hessen Verordnungen zur Führung von Kriegschroniken erlassen - ausdrücklich mit dem Ziel, Anzeichen von Kriegsmüdigkeit in den Gemeinden zu melden. Kurz danach endete das sogenannte landesherrliche Kirchenregiment mit Ausrufung der Republik. In den folgenden Jahrzehnten wurden die Pfarrchroniken teils weitergeführt, ohne dass dafür verbindliche Vorgaben existierten.
Die schuf die EKHN erst wieder Ende der 1950er Jahre - mit neuem, bundesweit ziemlich einmaligem Fokus. „Die Pfarrchronik dient der vertraulichen Information der Nachfolgerinnen und Nachfolger im Pfarramt über das Gemeindeleben und soll ihnen für die Ausübung des Pfarramtes in der jeweiligen Kirchengemeinde sachdienlich und hilfreich sein“, heißt es in der letzten, bis Ende 2023 gültigen Fassung der entsprechenden Verwaltungsverordnung. Dass die Pflicht nun ohne großes Aufheben abgeschafft wird, hat auch mit dem Spar- und Reformprozess „ekhn2020“ zu tun. Bei größeren Gemeindeverbünden mit Verkündigungsteams galt die Fortführung von Geheimberichten in den Händen einer einzelnen Person nicht mehr als zeitgemäß.
„Unersetzliche Möglichkeit, tief in die Gemeindegeschichte einzutauchen“
Doch das sehen nicht alle in der EKHN so. Johannes Hoffmann, zuständig für die Notfallseelsorge in Mainz, war lange Gemeindepfarrer im rheinhessischen Guntersblum. Er empfand das Führen einer Chronik über so lange Zeiträume als sehr hilfreich: „Nicht nur besondere Ereignisse wie den Einbau einer neuen Heizung für die Kirche, sondern auch Subtiles wie die Diskussionen über die Zulassung von gleichgeschlechtlichen Paaren zur Trauung in der Kirche oder offener Streit zwischen Kirchenvorstehern konnte dort einen Niederschlag finden.“ Das Führen einer Chronik biete den amtierenden Pfarrpersonen eine „unersetzliche Möglichkeit, tief in die Gemeindegeschichte einzutauchen und Zusammenhänge besser verstehen zu können“.
So war etwa zu erfahren, dass einer von Hoffmanns Vorgängern von den eigenen Gemeindemitgliedern als Kommunist beschimpft worden war, weil er in den 1970er und 1980er Jahren der Friedens- und Umweltschutzbewegung zuneigte. Zur Zeit der NS-Herrschaft gibt es oftmals in den Chroniken hingegen kaum Angaben. In Guntersblum etwa soll noch bis 1961 ein einstiger SA-Mann Pfarrer gewesen sein, der vor der Pensionierung alle Einträge für den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 aus dem dicken Lederbuch herausschnitt und neu verfasste.
Die kircheninternen Geheimberichte werden im Darmstädter Zentralarchiv der EKHN geschützt in einem klimatisierten Raum gelagert. 110 Jahre nach Ablauf der beschriebenen Ereignisse sollen sie für konkrete Forschungsanfragen zugänglich gemacht werden. Der Mainzer Kirchenhistoriker Wolfgang Breul wünscht sich von der Landeskirche etwas weniger strenge Datenschutzbestimmungen für Wissenschaftler. Manche der Chroniken könnten von großem Interesse für die Geschichtswissenschaft sein, auch zu jüngeren Ereignissen in Hessen, etwa der Auseinandersetzung um die Startbahn West.