
Der evangelische Kirchentag und das Wacken-Open-Air haben auf den ersten Blick vielleicht wenig gemeinsam, obwohl es auf dem am 4. Mai in Hannover beendeten Kirchentag sogar einen Metal-Gottesdienst gab: Auf den zweiten Blick jedoch gibt es wenige Großveranstaltungen in Deutschland, wo Zehntausende Menschen fünf Tage lang eine Stadt mit Freundlichkeit, Offenheit und Rücksichtnahme fluten. Menschen, die nicht pöbeln, wenn es einmal eng wird, und keine Müllberge hinterlassen.
Kirchentagspräsidentin Anja Siegesmund spricht von einer Lagerfeuer-Atmosphäre. „Das Lagerfeuer ist der Kirchentag“, sagte sie am zweiten Tag des evangelischen Laientreffens, das alle zwei Jahre in einer anderen deutschen Stadt stattfindet. Wie hoch das Feuer lodert, hänge davon ab, was die Menschen hineingeben, die sich darum versammeln.
Klöckner-Debatte und AfD
Angestachelt von der Debatte über die öffentliche Einmischung der Kirchen, loderten die Flammen in diesem Jahr hoch: Die neue Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) hatte sich in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ von den Kirchen mehr Sinnstiftung und weniger Stellungnahmen zu tagesaktuellen Themen im Stile einer Nichtregierungsorganisation gewünscht. Ihre Äußerungen führten zu einer Einladung zum Kirchentag, die sie annahm.
Wie weit die Kirche als Institution sich in politische Diskurse einmischen darf, wurde auf dem Kirchentag ebenso verhandelt wie ein mögliches AfD-Parteiverbotsverfahren nach der Einstufung als „gesichert rechtsextremistisch“ durch den Verfassungsschutz. Klöckners Parteikollege Armin Laschet sagte, dass Kirche sich einmischen müsse: „Kirche ist immer auch Weltgestaltung - Kirche ist politisch“, sagte er. Und auch Klöckner räumte während ihres Auftritts ein, natürlich müssten sich Christen auch politisch äußern.
Hart, aber fair
Nicht nur mit dieser Diskussion ging der Plan der Veranstalter auf, als Kirchentag eine Plattform zu bieten, auf der man hart in der Sache, aber auch fair diskutieren kann. Denn gerade das brauche es, um „die vielen losen Enden in der Gesellschaft“ zusammenzuführen, wie Siegesmund sagte - Herausforderungen wie Klimawandel, die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, sexualisierte Gewalt, Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit. All diese Themen fanden ihren Platz auf dem diesjährigen Kirchentag.
Kirchentag bietet auch die Erfahrung für viele Christinnen und Christen, dass sie - obwohl sie gesellschaftlich mittlerweile nicht mehr die Mehrheit sind - immer noch viele sind. Und dass man unterschiedlicher Meinung sein und das aushalten kann - etwa was die Debatte um Waffenlieferungen in die Ukraine angeht. Dass Debatten am besten von Angesicht zu Angesicht stattfinden und nicht auf Social Media. Und dass es auf jede einzelne Stimme ankommt.
Sinn für die oft grausame Realität
So konnten Besucher beispielsweise in Workshops üben, wie man am Arbeitsplatz oder am Gartenzaun Ressentiments und demokratiefeindliche Äußerungen pariert. Die pfälzische Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst, die in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) federführend sexualisierte Gewalt und deren Aufarbeitung vorantreibt, appellierte etwa: Jeder könne einem Betroffenen von Gewalt zuhören und eine Brücke bilden zur nächsten Anlaufstelle, die Hilfe biete.
Dass Christinnen und Christen keine naiven Weltverbesserer sind, sondern Sinn für die oft grausamen Realitäten haben, zeigt sich auch daran, dass eine Resolution zu einem Atomwaffenverbot bei den Kirchentagsbesuchern durchfiel. Eine Resolution, die Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung auffordert, ein AfD-Verbotsverfahren einzuleiten, wurde hingegen angenommen. In der Resolution heißt es zur Begründung: „Unzählige Christinnen und Christen, Gemeinden und Engagierte setzen sich täglich für Nächstenliebe, Vielfalt und Demokratie ein. Sie bieten oft unter persönlichem Risiko der extremen Rechten die Stirn.“
Sie habe den Kirchentag als eine Veranstaltung von Demokratinnen und Demokraten erlebt, sagte Präsidentin Siegesmund. „Eigentlich wünschte ich mir viel mehr genau dieser Bewegung und Diskussion jeden Tag, überall in der Bundesrepublik.“