Schreckensort Kinderheim: Chile wagt sich zaghaft an Aufarbeitung
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Belén
Santiago (epd).

Gewalt und Essensentzug gehörten zu Beléns Alltag, bis sie 18 war. Die Chilenin, die ihren Nachnamen ungern nutzt, wuchs in einem katholischen Kinderheim auf, das in staatlichem Auftrag arbeitete. „Wir lebten wie in einer Diktatur.“

Der chilenische Staat ignorierte die bis heute andauernden Menschenrechtsverletzungen an Heimkindern lange Zeit. Vergangenen Februar ernannte Präsident Gabriel Boric schließlich eine siebenköpfige Kommission, die das Leid von über 83.000 Minderjährigen in staatlicher Obhut von 1979 bis 2021 untersuchen und Vorschläge für Wiedergutmachung erarbeiten soll - eine Herkulesaufgabe.

Die deutsche Juristin Judith Schönsteiner ist eines der Mitglieder. „Unsere Kommission trifft sich derzeit mit Opferorganisationen, um gemeinsam die nächsten Schritte der Aufarbeitung zu erarbeiten.“ Die ursprünglich vom Bodensee stammende Wissenschaftlerin am Menschenrechtszentrum der Universität Diego Portales in der Hauptstadt Santiago überdenkt jedes Wort, bevor sie es ausspricht. „Wir stehen erst am Anfang einer langen Arbeit.“

„Keine Liebe, nur Regeln“

„Ich wusste, dass der Staat die Nonnen bezahlte, damit sie sich um mich kümmern. Aber das taten sie nicht“, erzählt Belén, deren Mutter nicht für sie sorgen konnte. „Ich war nur eine Nummer, es gab keine Liebe, nur Regeln.“ In der Schule habe man mit ihnen über Kinderrechte gesprochen - „meine wurden mit Füßen getreten“, sagt die 33-Jährige.

Der Nationale Dienst für Minderjährige (Sename) entstand während der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973-1990). Er besteht bis heute hauptsächlich aus privaten, oft kirchlichen Trägern, die im staatlichen Auftrag Kinderheime betreiben - mit nur minimaler Kontrolle, wie es in einem niederschmetternden Bericht der Vereinten Nationen von 2018 heißt. Auch nach dem Ende der Diktatur habe das autoritäre Regime in Kinderheimen fortbestanden. Es gebe kein Mitspracherecht, die Kinder und Jugendlichen erlebten täglich physische und psychische Gewalt, befand der Bericht.

Statt für den Schutz der Kinder zu sorgen, habe der Staat zugelassen, dass sie Opfer sexueller Ausbeutung wurden oder sogar aufgrund der Lebensbedingungen starben, kritisierten die UN-Experten. Allein von 2005 bis 2016 sind demnach 256 Kinder und Jugendliche in staatlicher Obhut ums Leben gekommen.

Viele Opfer misstrauen dem Staat

Als Reaktion auf den Bericht kündigte der damalige Präsident Sebastián Piñera eine Reform des staatlichen Kinderdienstes an. Er beließ das System weitgehend, trennte aber erstmals die Betreuung straffälliger Jugendlicher von jener Schutzbedürftiger. Der erste Dienst blieb dem Justizministerium unterstellt, der zweite kam unter neuem Namen ins Sozialministerium. Zudem wurde die Finanzierung erhöht und bessere Kontrolle versprochen.

Auch der aktuelle Präsident Gabriel Boric zeigt sich bei öffentlichen Anlässen bewusst kritisch und kündigt Verbesserungen an. Doch auf Fragen antworteten weder Justiz- noch Sozialministerium. Beide verwiesen auf die Kommission oder das jeweils andere Ressort.

Die Kommission könne nicht für die Behörden antworten, sagt hingegen Juristin Schönsteiner. Die Expertengruppe wolle einen fruchtbaren Dialog führen. „Natürlich misstrauen viele Opfer dem Staat.“ Doch sie sei zuversichtlich, dass die Kommission dieses Misstrauen abbauen könne. „Alle Opfer sollen die Möglichkeit erhalten, ihre Geschichte zu erzählen.“

Belén bleibt hingegen skeptisch: „Das ist alles nur Etikettenschwindel.“ Sie sieht sich selbst als Überlebende des Sename-Systems und engagiert sich heute für die Rechte von Kindern in staatlicher Obhut. „Kinder aus armen Verhältnissen werden in Chile nicht als Menschen mit sozialen Rechten wahrgenommen - bis heute“, sagt sie. Auch die aktuelle Politik habe daran nichts geändert. Dass kein einziges Opfer in der neuen Kommission sitzt, ist für sie bezeichnend. „Dabei sind wir überall - uns zu finden ist nicht schwer“, sagt sie trocken.

Von Malte Seiwerth (epd)