
Der Bonner Ethiker und Theologe Hartmut Kreß hat angesichts des Streits um ein Abtreibungsverbot an einem christlichen Klinikum eine breite kritische Debatte über das kirchliche Selbstverwaltungsrecht gefordert. Dieses werde „zu extensiv ausgelegt und in Anspruch genommen“, sagte Kreß dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Der Chefarzt des Zentrums für Frauenheilkunde am Klinikum Lippstadt, Joachim Volz, klagt vor dem Arbeitsgericht Hamm gegen zwei Weisungen seines Arbeitgebers, die ihm Schwangerschaftsabbrüche nach medizinischer Indikation untersagen. Hintergrund ist die Fusion des vormals evangelischen Hauses mit einem katholischen Träger, der Abbrüche aus moralischen Gründen ablehnt. Der Kammertermin findet am Freitag statt.
Kreß sagte, in dem Fall seien verschiedene Ebenen des im Grundgesetz verankerten kirchlichen Selbstbestimmungsrechts zu diskutieren. Zwar sage der Träger, in Ausnahmen Abbrüche bei Gefahr für Leib und Leben der Frau zuzulassen. Das sei aber „eine sehr stark irreführende Aussage“, betonte der evangelische Theologe. Denn Paragraf 218a Absatz 2 des Strafgesetzbuches erlaube auch Schwangerschaftsabbrüche nach pränataler Diagnostik, etwa bei Fehlbildungen.
Selbst wenn das kirchliche Selbstverwaltungsrecht verfassungsrechtlich garantiert sei, gelte es laut Grundgesetz „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“, betonte Kreß. Auch katholisch getragene Kliniken müssten sich nach den Normen des Gesetzgebers richten.
Zudem berühre der Fall Grundrechte - etwa die Therapiefreiheit, die Berufsausübungsfreiheit und ethisch die Gewissensverantwortung des Arztes. Volz betreue Fälle wie Föten mit Anenzephalie, bei denen die Kinder nicht lebensfähig sind. Ein Abbruch auf Wunsch der Frau sei nachvollziehbar und legal. „Da kann keine Moralvorgabe einer Klinik an die Stelle des persönlichen Gewissens des Arztes treten“, sagte Kreß.
Zwar müssten institutionelle Schutzansprüche kirchlicher Träger und individuelle Grundrechte gegeneinander abgewogen werden, im Zweifel hätten letztere aber Vorrang, sagte Kreß. Der Europäische Gerichtshof habe bereits zugunsten individueller Grundrechte entschieden, das Bundesverfassungsgericht müsse sich in Zukunft auch in diese Richtung bewegen, sagte Kreß. Das Grundgesetz stelle die Würde und Rechte des Einzelnen in den Vordergrund.
Kreß kritisierte die Kirchen. Die katholische Kirche müsse ihre Haltung zum Schwangerschaftsabbruch und zu den Rechten der Frau überdenken. „Das ist aus ethischen Gründen überfällig“, sagte er. Die evangelische Kirche habe versäumt, ihre liberaleren Positionen in den Fusionsverhandlungen der Kliniken zu behaupten. „Ich kritisiere mit Nachdruck, dass die evangelische Kirche ihre eigenen Positionen aufgibt“, sagte Kreß. Dabei habe sie sich in biomedizinischen Fragen bislang offener und teils liberaler gezeigt und das Selbstbestimmungsrecht von Patientinnen geachtet.