
Kindheit ist eine Lebensphase mit eigenem Wert und nicht etwa eine Vorstufe des Erwachsenseins. Diese These vertritt der Freiburger Arzt und Philosoph Giovanni Maio in seinem Aufsatz «Eine kleine Philosophie des Kindes unter der Perspektive seiner Verletzlichkeit», der in dem neuen Sammelband «Der verletzliche Mensch» (Herder Verlag, Freiburg) erschienen ist. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erläutert der Professor für Medizinethik, worin der Wert des Kindseins besteht und welche Konsequenzen sich daraus für eine Gesellschaft ergeben.
epd: Herr Professor Maio, was macht die Einzigartigkeit des Kindseins als Lebensphase aus?
Maio: Kindheit ist die Lebensphase, in der eine Entwicklungsdynamik vorliegt, die man sonst nie mehr im Leben hat. Je nachdem, wie man mit dem Kind umgeht, kommt es zur Entwicklung und zur Entfaltung der Fähigkeiten, die in dem Kind schlummern, oder die Fähigkeiten werden versiegen.
epd: Wie steht es um den Umgang mit dem Kindsein in unserer Gesellschaft?
Maio: Wir betrachten die Welt viel zu wenig aus der Perspektive des Kindes und vergegenwärtigen uns diesen Wert des Kindseins zu wenig. Der Wert des Kindseins liegt darin, dass das Kind einen eigenen wertvollen Zugang auf die Welt hat, wie Begeisterungsfähigkeit, Offenheit, Aufgeschlossenheit, Sorglosigkeit und natürlich auch Eigensinn.
epd: Sie sagen, Kinder können Vorbild sein für Erwachsene. Wie meinen Sie das?
Maio: Es ist wichtig, zu realisieren, dass das Kind primär zeitlos und vorbehaltlos auf die Welt zugeht. Darin ist das Kind uns Vorbild. Das Kind geht nicht primär strategisch auf die Welt zu, sondern es kann vielmehr spielerisch mit der Welt umgehen. Und das ist ein privilegierter Zugang auf die Welt. Wir machen den Fehler, Kinder viel zu früh auf das Zweckrationale einzustimmen und gar zu drillen, das zu tun, was Ergebnisse bringt, anstatt diese eigene kreative Offenheit der Welt gegenüber, die Kinder von Natur aus mitbringen, zu unterstützen.
epd: Kinder sind uns Erwachsenen also voraus?
Maio: Ja, nicht der Erwachsene ist das Eigentliche, und das Kind muss eben noch lernen. Nein, das Kind kann bestimmte Dinge besser als der Erwachsene. So muss man die Kinder betrachten. Kinder können staunen. Das haben die Erwachsenen verlernt. Kinder sind unvoreingenommen, sie haben eine Begeisterungsfähigkeit für die Welt und eine absolute Neugier auf die Welt, sie erfreuen sich immens an neuen Dingen. Sie gehen kreativ auf die Welt zu. Sie erschließen sich die Welt. Wir Erwachsene sind oft voreingenommen. Wir meinen schon zu wissen, was wir sehen werden, haben unsere Pläne und stülpen sie der Welt über.
epd: Und doch brauchen Kinder den Erwachsenen, der für sie da ist?
Maio: Kinder sind den Erwachsenen in vielen Dingen voraus, sie sind aber gleichzeitig manipulierbar, leicht zu beeinflussen. Daher sind sie gefährdet. Das ist eben das Vielschichtige am Kindsein, dass das Kindsein mit so vielen Fähigkeiten, Möglichkeiten, Potenzialen versehen ist, aber auch mit enormen Gefahren. Sie sind auf ein stabiles und Sicherheit gebendes Umfeld angewiesen, sonst versiegen die Quellen, die in Ihnen angelegt sind. Kinder können aufblühen, und sie können verkümmern. Sie können zu maximaler Kreativität angeregt werden, und zugleich können sie eingeschüchtert werden, sie können verzagen, sich zurückziehen, unglücklich und gar psychisch krank werden.
epd: Wie können Erwachsene Kindern helfen, sich zu entfalten?
Maio: Kinder können sich nur entwickeln, wenn ihnen Schutzräume angeboten werden. Schutzräume, die ihnen ein Gefühl der Geborgenheit schenken. Sie brauchen auch einen Schutzraum vor den Erwartungen der anderen, sodass sie einfach Kind sein dürfen und nicht ständig einem Erwartungsdruck ausgesetzt sind. Kinder brauchen Sicherheit durch Bindungen. Und sie brauchen vor allem Liebe vonseiten der sie umgebenden Menschen. Niemand braucht diese Liebe so sehr wie Kinder. Das dürfen wir nicht vergessen.