Der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Karl Schlögel, sieht Europa in einer „neuen Vorkriegszeit“. Es falle einer friedensgewohnten Generation schwer, sich in einer solchen Situation zurechtzufinden, sagte der Osteuropa-Historiker am Sonntag bei der Preisverleihung in der Paulskirche in Frankfurt am Main. Die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja lobte, Schlögel wolle in seiner Arbeit nie die menschliche Dimension aus den Augen verlieren.
Der mit 25.000 Euro dotierte Friedenspreis gehört zu den bedeutendsten Kulturpreisen Deutschlands und wird seit 1950 vergeben. Der langjährige Professor der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder gelte als einer der profiliertesten Kenner Osteuropas und habe dessen Kultur- und Zeitgeschichte neu erzählt, hieß es zur Begründung der Preisvergabe an Schlögel.
Der Historiker rief dazu auf, von den Erfahrungen der Menschen in der Ukraine zu lernen. „Es gibt in Deutschland viele Russland-Versteher, aber zu wenige, die von Russland etwas verstehen“, sagte er. Die Menschen in der Ukraine hätten gelernt, dass sich Aggressoren nur mit Worten nicht aufhalten ließen und dass Entgegenkommen nur ihren Appetit steigere.
„Sie bringen uns bei, dass Landesverteidigung nichts mit Militarismus zu tun hat“, betonte Schlögel. Europa sei heute nicht nur mit einem imperialen Russland konfrontiert, sondern auch mit einem unberechenbaren Amerika „in einer Situation, in der alles offen ist“.
Deutschland habe erstaunlich lange gebraucht, um zu verstehen, womit man es mit dem Russland unter Präsident Wladimir Putin zu tun habe, sagte der Historiker. Auch er habe sich nicht vorstellen können, „dass Russland zurückfallen könnte in Zeiten, die in vielem den Praktiken des Stalinismus gleichen“. Doch spätestens mit der Annexion der Krim 2014 habe Putin das „Tor zu einer neuen Vorkriegszeit aufgestoßen“.
Die russische Kriegsführung nannte Schlögel einen „Urbizid“: Städte würden zum Terrain, wo mit Drohnen und Raketen Jagd auf Menschen gemacht werde. Dem Volltreffer auf ein Wohnhaus folge der Volltreffer auf die Rettungskräfte. „Wenn man ein Land nicht erobern kann, muss man es zerstören“, beschrieb der Preisträger das russische Vorgehen.
Petrowskaja erinnerte in ihrer Laudatio daran, dass Schlögel kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 um Verzeihung dafür gebeten habe, dass er diesen Krieg nicht habe kommen sehen. Auf eine solche Bitte um Entschuldigung von Politikern und Politikerinnen, die den russischen Präsidenten Wladimir Putin auch nach der Krim-Annexion 2014 weiter hofiert hätten, warte sie bis heute, sagte sie.
Die Schriftstellerin betonte, Schlögel habe das Anliegen, „die menschliche Dimension nicht aus den Augen zu verlieren“. Seine Forschungsethik sei, nie ohne genaue Anschauung zu schreiben, die er sich durch Reisen verschafft habe. Er glaube an eine „Aufklärung durch Schreiben“.
Brandenburgs Wissenschaftsministerin Manja Schüle (SPD) erklärte, Schlögel sei als profunder Osteuropa-Experte und langjähriger Kritiker Putins „eine engagierte Stimme für eine freie Ukraine, ohne die es ein freies Europa nicht geben kann“.