
25 Jahre nach der Auswilderung der ersten Luchse im Harz hat sich die Population stabilisiert und auf das Umland ausgeweitet. Weil es keine Vernetzung mit anderen Vorkommen gibt, droht den Harz-Luchsen aber genetische Verarmung und Inzucht. Der Forstwirt Ole Anders betreut seit 25 Jahren das Luchsprojekt im Nationalpark
epd: Im Jahr 2000 wurden erstmals wieder Luchse im Harz ausgewildert. Wie hat sich die Population seitdem entwickelt?
Ole Anders: Positiv. Die Fläche, auf der sich die Population ausbreitet, wächst. Und wir haben immer mehr führende Weibchen, in der vergangenen Saison haben wir 20 Weibchen gezählt, die Jungtiere geführt haben. Ein weiterer Indikator ist, so merkwürdig das klingt, die steigende Zahl von tot aufgefundenen Luchsen - gibt es mehr Luchse, gibt es auch mehr tote Luchse, etwa durch Verkehrsunfälle. Unter dem Strich lässt sich sagen: Die Harzer Luchspopulation wächst seit Jahren moderat an.
epd: Können Sie Zahlen nennen?
Anders: Genaue Zahlen zu nennen, ist immer schwierig, wir können uns da nur annähern. Für den Harz selbst gehen wir von etwa 55 erwachsenen Luchsen aus. Plus etwa 35 Jungtiere, die pro Saison geboren werden. Wenn wir das weitere Umfeld des Harzes betrachten, kommen wir auf eine Zahl von 120 oder sogar 150 erwachsenen Tieren.
epd: Was heißt weiteres Umfeld?
Anders: Wir hatten ab 2010 die Situation, dass Luchse außerhalb des Harzes geboren wurden. Danach bekam das eine größere Dynamik. Zunächst in den größeren Waldgebieten im Hils und im Solling. Dazwischen liegen große Bereiche ohne Wald und der Leinegraben mit extrem viel Infrastruktur. Während man anfangs einen Flickenteppich hatte, wächst das jetzt mehr und mehr zusammen, und wir haben jetzt eine ziemlich große durchgehende Fläche, die von Luchsen besiedelt ist.
epd: Wer zählt die Luchse?
Anders: Im Nationalpark beschäftigen sich zwei Personen durchgehend mit dem Luchs. Hier laufen die Zufallsbeobachtungen zusammen, die Leute draußen machen und weitermelden. Wir sind natürlich besonders dankbar für Fotomeldungen. Wir haben im Nationalpark selbst etliche Fotofallen im Einsatz, teilweise auch außerhalb des Nationalparks und in den umliegenden Bereichen, insgesamt an 70 Standorten.
epd: Wie steht die Bevölkerung zum Luchs?
Anders: In den Anfangsjahren des Projekts gab es Ängste und Vorurteile, damals war das Thema Luchs in Deutschland ja noch gar nicht präsent. Es gab zwar ein paar Luchse im Bayerischen Wald, in der äußersten südöstlichen Ecke, aber das war's. Im Empfinden der meisten Leute hier war der Luchs ein großes, fremdes Raubtier. Und wir haben Briefe bekommen und Aussagen gehört, dass man jetzt im Wald ja nicht mehr sicher spazieren gehen kann. Das hat sich in den Folgejahren alles gedreht in eine fast durchgehend positive Richtung. Der Luchs ist ein Maskottchen für den Harz geworden. Also, da ist nur noch wenig Aufbauarbeit zu leisten.
epd: Und wie ist es in den Gebieten, in denen sich Luchse erst jetzt ansiedeln?
Anders: Jetzt ist es so, dass der Luchs rausgeht in eine halb offene Kulturlandschaft, eine teilweise industrielle Landschaft, und das ist schon was Neues, ein relativ großes Raubtier in an Infrastruktur reichen Regionen zu haben. Da wiederholen wir teils dieselben Arbeitsschritte wie anfangs im Harz, indem wir erklären, dass und warum der Luchs eben keine Gefahr für Leib und Leben ist.
epd: Im Harz haben sich zuletzt auch Wölfe angesiedelt. Vertragen die sich mit den Luchsen?
Anders: Grundsätzlich schließen sich Wölfe und Luchse nicht aus in einem großen Waldlebensraum wie dem Harz. In den Karpaten zum Beispiel leben Wölfe und Luchse, ohne dass die einen die anderen verdrängen. Andererseits kann es im direkten Kontakt auch Aggressionen geben. Wir haben da zum Beispiel gefilmt, wie sich ein Luchs über einen Rotwildkadaver hermacht, den er im Wald gefunden hat, und dann kommen die Wölfe dazu und versuchen, sich den zu schnappen. Der Luchs ist durchaus in der Lage, einem einzelnen Wolf das Fürchten zu lehren und den auch zu vertreiben, aber Wölfe kommen eben häufig im Rudel. Es ist auch möglich, dass Luchse Wolfsjunge angreifen, anderseits ist es ebenso möglich, dass Wölfe die ein oder andere Kinderstube des Luchses ausräumen. Da muss man abwarten, wie sich das entwickelt. Es ist ein großer Feldversuch. So eine Situation - der Luchs ist da und der Wolf kommt dazu - haben wir bisher nicht gehabt. Ein Novum zumindest in Deutschland.
epd: Werden Luchse illegal getötet?
Anders: Ja, aber das hat längst nicht die Ausmaße wie bei Wölfen. Wir haben in den drei Bundesländern, die von der Harzpopulation berührt sind, illegale Vorfälle. In Thüringen gab es zwei Fälle von illegalen Abschüssen. In Sachsen-Anhalt einen, und in Niedersachsen auch einen. Das sind Einzelfälle, die man nicht verharmlosen sollte, aber vier bekannt gewordene Fälle in 25 Projektjahren hatten keinen Einfluss auf die Entwicklung der Population.
epd: Die Harz-Luchse bleiben bislang unter sich. Inwieweit gefährdet Inzucht die Population?
Anders: Die Situation ist zunehmend dramatisch. Im letzten Jahr gab es Bilder von einem Luchs ohne Ohren von der französisch-schweizerischen Grenze. Zudem gibt es dort viele Luchse mit Herzanomalien. Wie vermuten, dass dahinter Inzucht und Degeneration stehen. Diese Population ist 25 Jahre älter als die Harzpopulation und nicht vernetzt mit anderen. Im Grunde können wir durch das Beispiel absehen, wo wir in 25 Jahren landen, wenn nichts passiert.
epd: Passiert denn etwas?
Anders: Es gibt Gott sei Dank einige Initiativen. Etwa auf internationaler Ebene das Netzwerk „Linking Lynx“ von Forschenden und Umweltverbänden, das sehr effizient arbeitet. Es gibt ein Zuchtprogramm vom Internationalen Zooverband. Der hat in seinen Zoos ein genetisches Monitoring gemacht: Wo haben wir Luchse, die bestimmten Unterarten zugehören und wie können wir die miteinander verpaaren, sodass die auch Nachwuchs produzieren, der für Auswilderungsprojekte zur Verfügung steht?
epd: Gibt es schon solche Auswilderungsprojekte?
Anders: Wir haben drei solche Projekte für Luchse in Deutschland, im Schwarzwald, in Thüringen und im Erzgebirge. Zu den zuletzt genannten blicken wir vom Harz aus mit dem größten Interesse, weil sie am besten erreichbar sind, der Weg dorthin ist zumindest für männliche Luchse durchaus machbar, also vom Harz in den Thüringer Wald, und das wäre schon nahezu die halbe Strecke ins Erzgebirge. Wenn das Thüringer Projekt erfolgreich ist, hätte man einen Trittstein in der Mitte, sodass vielleicht wirklich Luchsmigration in die eine oder andere Richtung möglich wird und eine Vernetzung zustande kommt.
epd: Woher weiß denn der Luchs aus dem Harz, dass im Thüringer Wald Artgenossen leben?
Anders: Durch Trial and Error. Es gibt ja auch jetzt schon vor allem bei den Männchen Abwanderungen, die sind halt bisher ins Leere gelaufen. Ein Luchs, der von hier aus Richtung Norden startet, kommt irgendwann in der Lüneburger Heide oder an der Küste an, aber er bleibt der einzige Luchs dort. Jetzt würden aber die, die nach Süden wandern, vielleicht doch auf andere Tiere stoßen. Und wenn es dann zur Reproduktion kommt, hätte das einen Effekt.
epd: Kann man Luchse auch umsiedeln?
Anders: Auch das wird diskutiert, auch daran wird geschraubt. Der Fokus liegt aber weniger auf Fängen und Umsiedlungen, sondern auf verwaisten Jungtieren. Die Idee ist, wenn man in verschiedenen Populationen verwaiste Jungtiere hat, dass man dann so eine Art Ringtausch organisiert. Dann hätte jeder noch gleich viel Luchse. Dies wäre ein sehr niederschwelliges Modell. Man muss da also nicht sagen, wir setzen Luchse aktiv dazu. Wenn das regelmäßig passiert, könnte das schon zu einer Sanierung der genetischen Strukturen führen.