"Höchste Höhen und tiefste Tiefen"
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"Hoechste Hoehen und tiefste Tiefen"
Worpswede, Bremen (epd).

Wer durch das Künstlerdorf Worpswede bei Bremen schlendert, begegnet seinen Werken fast auf Schritt und Tritt: Der monumentale Niedersachsenstein auf dem Weyerberg, das „Kaffee Worpswede“ mit Gästehaus und der „Großen Kunstschau“ in der Ortsmitte, das Grabmal von Paula Modersohn-Becker auf dem Friedhof der Zionskirche, der opulente Diedrichshof - alles Arbeiten und Gebäude, die Bernhard Hoetger (1874-1949) geschaffen hat.

Am 4. Mai vor 150 Jahren wurde der aufgrund seiner Nähe zur NS-Ideologie umstrittene Universalkünstler geboren, der Worpswedes Ortsbild wohl geprägt hat wie kein anderer. Auch die berühmte Böttcherstraße in Bremen, heute ein touristischer Hotspot, hat der Bildhauer, Maler, Architekt, Kunsthandwerker und Meisterschüler der Kunstakademie Düsseldorf in weiten Teilen gestaltet. Genauso wie den Platanenhain der Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt.

Geboren in ärmlichen Verhältnissen im westfälischen Hörde - heute ein Stadtteil von Dortmund -, kam Hoetger nach seiner Ausbildung und einer Begegnung mit Paula Modersohn-Becker nach Worpswede. „In den 1920er Jahren war er eine Leitfigur für die expressionistischen Künstler, die sich hier niederließen“, sagt der Geschäftsführer des Worpsweder Museumsverbundes, Matthias Jäger.

Unterstützt wurde Hoetger von einflussreichen Mäzenen wie dem Bankier und Kunstsammler Baron August von der Heydt, dem Bremer Kaffeehändler Ludwig Roselius, dem hannoverschen Keksfabrikanten Hermann Bahlsen und Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein. Doch obwohl er baulich so wichtig für Worpswede war und heute zu den bedeutendsten Bildhauern Deutschlands zählt, kommt er dort als Person kaum vor. Verschämtes Schweigen? Ratlosigkeit gegenüber einem Künstler, der sich schwer einordnen lässt? Jäger rät: „Genau hinschauen, dann ein Urteil fällen.“

Dazu trägt Worpswede mit einer Jubiläumsausstellung unter dem Titel „Bernhard Hoetger. Zwischen den Welten“ bei. „Keine Geburtstagsparty, eine kritische Würdigung“, betont Jäger. Auch in der laufenden Ausstellung im Bremer Paula Modersohn-Becker Museum und auf der Mathildenhöhe in Darmstadt ist Hoetger präsent. Am 4. Juli soll außerdem ein Dokudrama bundesweit in die Kinos kommen - unter dem gleichen Titel wie in den Museen.

Es ist tatsächlich ein bewegtes Leben, das Hoetgers Frau Lee 1948 kurz vor dem Tod des Künstlers in einem Brief mit den Worten beschrieb: „Wir haben ja in unserem Leben die höchsten Höhen und tiefsten Tiefen mehrmals erlebt.“ Zu den Tiefen gehört aus heutiger Sicht zweifellos, dass Hoetger versucht hat, sich Hitler und den Nationalsozialisten anzudienen und zeitweise auch Mitglied der NSDAP war. So schuf er das großformatige Relief „Lichtbringer“ am innenstadtseitigen Eingang zur Bremer Böttcherstraße nach eigenem Bekunden als Beweis, „wie sehr ich unseren Führer und seine Taten verehre“.

„Er war aber kein Nazi im Sinne eines Parteigängers, der Hitlers Visionen in 'Mein Kampf' direkt folgte“, ist der Hoetger-Experte Arie Hartog überzeugt. „Er war eindeutig ein Esoteriker mit einem theosophisch geprägten Weltbild“, meint der Direktor des Bremer Bildhauermuseums Gerhard-Marcks-Haus. „Ein typischer Kunde im weltanschaulichen Selbstbedienungsladen seiner Zeit.“

Durch Besuche der Pariser Museen verschaffte sich Hoetger einen Überblick über die Kunst verschiedener Zeiten und Länder. Hoetgers Gesinnung, seine Berufung auf eine völkisch-nordische „Urreligion“, zeigt sich dann unter anderem am 1922 eröffneten gewaltigen Niedersachsenstein: einst als Siegesmal geplant und in jüngerer Zeit pazifistisch umgedeutet, geschmückt mit Gestirns-Symbolen und einem Sonnenkranz. Die 18 Meter hohe expressionistische Großplastik, die im unregelmäßigen Mauerwerk von Licht und Schatten strukturiert wird, erinnert an einen Vogel, der die Schwingen öffnet, gerade so, als ob er sich im nächsten Moment in den Himmel erheben wollte.

Das Gegenüber von Licht und Schatten, Werden und Vergehen, „seine Suche nach einer alternativen Bildsprache für eine alternative Religion“ bestimmen Hartog zufolge das Werk von Hoetger. Eines seiner bildhauerischen Hauptwerke, der Figuren-Zyklus „Licht und Schattenseiten“, ist genau diesem Thema gewidmet.

In seiner Arbeit gehörte Hoetger zu den Künstlern, die mit der Vereinfachung der Formen angefangen haben - extrem wandelbar und anpassungsfähig. Ein „Eklektiker“, wie Kritiker ihm vorhielten, einer, der Ideen anderer für seine Werke vereinnahmte. Hartog winkt ab: „Er war ein inhaltlich enorm konsistenter Künstler, der nach den passenden Formen zu seinem Weltbild suchte.“

Hitler missfiel das. Hoetgers Arbeiten seien „undefinierbare nordische Phrasen“ aus „irgendeinem sagenhaften atlantischen Kulturkreis“, schimpfte der Führer auf dem Nürnberger Reichsparteitag 1936. Und legte nach: „Der Nationalsozialismus lehnt diese Art von Böttcherstraßen-Kultur schärfstens ab.“

Wenig später wurde Hoetger aus der NSDAP ausgeschlossen, allerdings fast mit einer entschuldigenden Begründung des zuständigen Gaugerichtes. Viele seiner Werke wurden als „entartet“ diffamiert, Skulpturen vernichtet. „Am Ende“, blickt Worpswedes Museumsmanager Jäger zurück, „war er als Künstler komplett abgemeldet. Das hat er nicht verwunden.“ Hoetger starb verarmt und depressiv im Alter von 75 Jahren in der Schweiz.

Von Dieter Sell (epd)