
Die documenta feiert dieses Jahr ihr 70-jähriges Bestehen. Niemand auf der Begleitausstellung zur Bundesgartenschau in Kassel 1955 ahnte, dass sich daraus eine weltweit bedeutende Ausstellung der zeitgenössischen Kunst entwickeln würde.
Kassel (epd). Im Jahr 1955 war der Wiederaufbau in Kassel nach den verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs noch in vollem Gange. Nicht nur Mauern, auch Kunst und Kultur hatten schwere Schäden unter der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten genommen. Einen entscheidenden Beitrag zu deren Wiederaufbau leistete der Kasseler Kunstprofessor Arnold Bode (1900-1977).
Bode, der 1948 zu den Mitbegründern der Kasseler Kunstakademie zählte, sah hierzu in der 1955 in Kassel geplanten Bundesgartenschau eine Chance: Eine Begleitausstellung sollte die Besucher an die im Nationalsozialismus verfemte moderne Kunst wieder heranführen. Die letzte Ausstellung mit zeitgenössischer Kunst in Deutschland lag fast 20 Jahre zurück, es war die 1937 von den Nationalsozialisten gezeigte Propagandaschau „Entartete Kunst“. Bodes Plan ging auf, auf der am 15. Juli 1955 eröffneten Ausstellung wurden stolze 130.000 Besucher gezählt. Die documenta war geboren.
Beflügelt vom Erfolg inszenierte Bode in Kooperation mit anderen Kunstexperten 1959, 1964 und 1968 drei weitere Ausstellungen, die immer mehr Besucher anzogen. Mit der documenta 3 wurde zugleich die Dauer künftiger Ausstellungen auf 100 Tage festgelegt. Wie sich später herausstellte, war unter Bodes Team mit Werner Haftmann ein ehemaliges Mitglied der NSDAP. Aufgedeckt wurde dies jedoch erst nach Haftmanns Tod.
Bedeutende Skulpturen bis heute zu bewundern
1972 endete die Ära Bode, mit Harald Szeemann übernahm erstmals eine Einzelperson die alleinige inhaltliche Verantwortung der Weltkunstschau. Die sechste Ausgabe der documenta 1977 unter Manfred Schneckenburger zählt zu den Ausstellungen, die bis heute bedeutende Skulpturen in Kassel hinterlassen haben. Ein riesiger, doppelter Bilderrahmen aus Metall von Haus-Rucker-Co sowie eine vom Fridericianum in der Innenstadt bis zum Herkules im Bergpark Kassel Wilhelmshöhe reichende Laserskulptur von Horst E. Baumann sind bis heute zu bewundern.
Das gilt auch für den Erdkilometer von Walter De Maria. Hierfür wurde ein 1.000 Meter tiefes Loch auf dem Friedrichsplatz in die Erde gebohrt, in das Messingstangen mit einem Durchmesser von fünf Zentimetern versenkt wurden. Der Künstler wollte damit zum Nachdenken über die Erde und ihren Ort im Universum anregen, sorgte aber für wütende Proteste. Heute ist von dem Projekt nur die obere Verschlusskapsel zu sehen.
Eine der bedeutendsten Ausstellungen für das Kasseler Stadtbild war die documenta 7 im Jahr 1982 unter Rudi Fuchs, für die Joseph Beuys seine Skulptur „7.000 Eichen“ ausrief. Der Plan sah vor, 7.000 Eichen im Stadtgebiet zu pflanzen. Jedem Baum sollte eine Basaltstele als lebloser Kontrapunkt hinzugesellt werden. Diese Aktion sorgte anfangs ebenfalls für Ärger in der Bevölkerung. Die Pflanzung des letzten Baumes im Rahmen der documenta 8 erlebte Beuys nicht mehr, sein Sohn Wenzel übernahm 1987 die Pflanzung.
Immer wieder Provokationen
Beuys, der seit der dritten documenta ein regelmäßiger Teilnehmer war, fiel immer wieder durch Provokationen auf. So führte seine Aktion auf der documenta 7, eine kunstvoll geschmiedete und mit Juwelen besetzte Nachbildung der Zarenkrone einzuschmelzen und einen Goldhasen sowie eine kleine Sonnenkugel als Symbole des Friedens daraus zu formen, zu wütenden Protesten, bei denen auch Eier geworfen wurden.
Auch finanziell lief nicht immer alles rund. Die Geschäftsführerin Annette Kulenkampff verlor 2017 im Verlauf der documenta 14 den Überblick über das Finanzgebaren des künstlerischen Leiters Adam Szymczyk, der einen zweiten Standort der Ausstellung in Athen bespielte. Für das entstandene Millionendefizit musste die documenta einen Kredit von acht Millionen Euro aufnehmen. Kulenkampff musste das Feld räumen.
Erstmals Kunstwerk wieder abgebaut
Die jüngste documenta fifteen 2022, erstmals vom einem Kollektiv aus Indonesien verantwortet, sah sich schon vor Beginn Antisemitismusvorwürfen ausgesetzt. Kurz nach Eröffnung wurde erstmals in der Geschichte der documenta ein Kunstwerk, dem antisemitische Bildsprache vorgeworfen wurde, zunächst mit schwarzen Tüchern verhängt und schließlich ganz abgebaut. Weitere Vorwürfe folgten und der Schaden wuchs. Auch die für Kulenkampff gekommene Generaldirektorin Sabine Schormann musste aus dem Amt scheiden.
Bei der öffentlichen Vorstellung des Konzeptes für die documenta 16, die für 2027 geplant ist, hob die künstlerische Leiterin Naomi Beckwith im März hervor, dass sie keine physische, verbale oder symbolische Gewalt gegen andere dulden werde. Sie sei offen für Debatten und Diskussionen, vertrete aber einen Null-Toleranz-Standpunkt, wenn es um Rassismus, Antisemitismus und jegliche Form von Diskriminierung gehe.
Erfolgreich zur Wehr gesetzt
Bisher hat die documenta jede Krise überlebt, auch wegen der starken Unterstützung durch die Kasseler Bürgerschaft. So setzte sich zuletzt die Initiative „standwithdocumenta“, die von drei ehemaligen Vorstandsvorsitzenden des documenta-Aufsichtsrates und vielen Künstlern unterstützt wurde, gegen geplante Selbstbeschränkungen der künstlerischen Leitung im Zuge der Antisemitismus-Vorwürfe erfolgreich zur Wehr. Überhaupt: Die einstige Skepsis der Kasseler, die bis zur offenen Feindschaft ging, ist im Laufe der Zeit dem Stolz auf die weltweit bedeutende Schau gewichen.
www.documenta.de
www.documenta-archiv.de/de
Geschichte der documenta: http://u.epd.de/39vd
Festprogramm 70 Jahre: www.70jahredocumenta.de