"Wir wollen verstehen"
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Jugendliche wollen in Bergen-Belsen aus der Geschichte lernen
Junge Menschen wollen in Bergen-Belsen aus der Geschichte lernen
Bergen-Belsen (epd).

Nils Hunold macht auf dem Gelände der Gedenkstätte Bergen-Belsen Halt an Fundamentresten, die mit Gras und Moos bewachsen sind. Das frühere Löschwasserbecken gehört zu den wenigen Spuren, die in der weitläufigen Heidelandschaft daran erinnern, dass hier ein Kriegsgefangenen- und Konzentrationslager war. Von Durst geplagt hätten Menschen daraus getrunken, sagt Hunold, ein Guide der Gedenkstätte. „Eine schlechte Idee.“ Das abgestandene Wasser sei mit Bakterien verseucht gewesen. „Sie wurden sicher krank.“

Knapp 20 junge Frauen und Männer stehen im Halbkreis um ihn herum. Sie nehmen noch bis zum 27. März an der sogenannten „Spring School“ teil, zu der rund 50 junge Menschen aus Israel und sieben europäischen Ländern angereist sind. Der Landesjugendring Niedersachsen hat in Kooperation mit der Gedenkstätte zu der Begegnung eingeladen, zum 30. Mal schon.

Die „Spring School“ wird immer vor dem 15. April veranstaltet, dem Tag, an dem britische Truppen 1945 das nationalsozialistische Konzentrationslager befreiten. Sie fanden dort Tausende unbestattete Leichen und Zehntausende todkranke Menschen. Insgesamt starben in Bergen-Belsen mehr als 52.000 KZ-Häftlinge und rund 20.000 Kriegsgefangene.

Emma (18) aus Ungarn, die wie die anderen Jugendlichen nur mit dem Vornamen angesprochen werden will, ist bewegt von dem, was Nils Hunold erzählt. „Kein Wasser, kein Essen, 600 Menschen gedrängt in einem Gebäude“, fasst sie auf Englisch zusammen, was sie vorher gehört hat. Eben noch hat sie auf dem Rundgang bei sonnigem Wetter aus ihrer PET-Flasche getrunken. „Was hier geschehen ist, ist unfassbar“, sagt sie. „Das kann man sich nicht vorstellen. Es fühlt sich schrecklich an.“

Für Domokos Kovacs, der die Jugendlichen des Deutsch-Ungarischen Jugendwerks begleitet, ist es auch eine Reise in die eigene Geschichte. Seine Urgroßmutter sei mit anderen Familienmitgliedern als Jüdin verfolgt und zunächst nach Dachau, dann nach Bergen-Belsen verschleppt worden, erzählt der 23-Jährige. Mit Blick auf das steinerne Löschwasserbecken sagt er: „Darum waren meine Verwandten an Typhus erkrankt“. Und fügt leise an: „Es war schlimm.“

Die Studentin Nele aus Hannover beschäftigt ebenfalls die Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte. „Meine Urgroßeltern hatten eine Nazi-Vergangenheit“, sagt sie. „Der eine Uropa war bei der SS. Bei dem anderen ist es nicht ganz klar, da sind wir in der Aufarbeitungsphase.“

Die Jugendlichen sprechen auch mit Politikern und dem Zeitzeugen Gershon Willinger, der als Kind das Lager überlebte. Der „Spring School“ geht es aber um mehr als den Blick in die Vergangenheit, wie der Jugendreferent des Christlichen Vereins Junger Menschen (CVJM), Norik Mentzing, für die Organisatoren erläutert. Aktuelle Themen wie das Erstarken rechter Akteure, globale Krisen und die Zunahme von sozialer Ungleichheit und Diskriminierung würden ebenfalls in den Blick genommen.

Schon häufiger haben junge Menschen aus Israel an der Begegnung teilgenommen, doch zum ersten Mal kommen diese von „Atidna“, einer Organisation der arabischen Minderheit im Land. Diese bemüht sich laut Selbstbeschreibung um ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Juden und fordert zugleich einen gleichberechtigten Umgang. Nicht erst seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel stehen die arabischen Israelis vor Herausforderungen. „Wir haben ein Problem mit unserer Identität“, sagt „Atidna“-Jugendsekretär Tony Nasser.

In Bergen-Belsen geht es den muslimischen und christlichen jungen Menschen darum, das dunkelste Kapitel der jüdischen Geschichte besser kennenzulernen, wie Teilnehmerin Yara aus der Nähe von Haifa erläutert. „Wir wollen verstehen, was hier mit den Juden passiert ist“, sagt sie.

Vieles bleibt jedoch schwer begreiflich. Nils Hunold berichtet, dass zum Ende der Zeit des Lagers die Trinkwasserversorgung zusammengebrochen sei und niemand den verdurstenden Menschen geholfen habe. Nach der Befreiung hätten die Briten einer örtlichen Feuerwehr befohlen, die Versorgung wieder herzustellen. Innerhalb von drei Stunden sei dies gelungen. „Es war keine große Sache“, sagt Hunold. „Die Menschen sind nicht einfach so gestorben. Es war das Ergebnis dessen, was andere Menschen getan haben.“

Von Karen Miether (epd)