Rollstuhlfahrern werden Alltagsbesorgungen erleichtert
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Abgestellte Rollstühle

Die Krankenkassen müssen Rollstuhlfahrern für ihre Alltagsgeschäfte mehr Mobilität ermöglichen. So können sie mit Hilfsmitteln versorgt werden, die ihnen ermöglichen, auch größere Entfernungen zurückzulegen, urteilte das Bundessozialgericht.

Kassel (epd). Die gesetzlichen Krankenkassen müssen Rollstuhlfahrern mehr Mobilität zur Erledigung ihrer Alltagsgeschäfte zugestehen. So haben gehbeeinträchtigte Menschen Anspruch auf Hilfsmittel, die ihnen eine Fortbewegung nicht nur im „fußläufigen“ Nahbereich ihrer Wohnung ermöglichen, sondern auch darüber hinaus, urteilte am 18. April das Bundessozialgericht (BSG). Die Kasseler Richter änderten damit ihre bisherige Rechtsprechung und entschieden, dass - je nach örtlichen Gegebenheiten - die Krankenkasse Versicherte auch mit Hilfsmitteln versorgen muss, mit denen sie größere Entfernungen zurücklegen können.

Arthrose im Daumensattelgelenk

Im vom BSG entschiedenen Leitfall ging es um einen querschnittsgelähmten Rollstuhlfahrer. Dieser wohnt am Ortsrand einer Kleinstadt im Weserbergland. Mit seinem Rollstuhl hatte er wegen einer Arthrose im Daumensattelgelenk infolge des ständigen Greifens am Greifreifen des Rollstuhls zunehmend Probleme, sich im bergigen Umfeld seiner Wohnung fortbewegen zu können. Der gesetzlich Versicherte beantragte bei seiner Krankenkasse ebenso wie der Kläger im vergleichbaren zweiten Verfahren die Versorgung mit einem motorunterstützten Handkurbel-Rollstuhlzuggerät zum Preis von rund 6.500 Euro.

Der Kläger verwies zunächst auf seinen Wunsch, sich gesundheitsförderlich bewegen zu wollen. Mit dem gewünschten Hilfsmittel könne er kleinere Einkäufe und Fahrradtouren mit Freunden machen. Im zweiten Verfahren verwies der querschnittsgelähmte Kläger darauf, dass er mit dem Rollstuhlzuggerät Einkäufe in der sechs Kilometer weit entfernten Kreisstadt im Westerwald oder Apothekenbesuche erledigen könne. Im dritten Verfahren hatte die an einer multiplen Sklerose erkrankte Klägerin die Kostenerstattung für ein Erwachsenendreirad mit Motorunterstützung beantragt, um ihre Mobilität im Nahbereich ihrer Wohnung zu verbessern.

In allen Verfahren wiesen die Krankenkassen die Kläger ab. Sie seien zwar zum mittelbaren Behinderungsausgleich verpflichtet. Dazu gehöre, dass eine gehbeeinträchtigte Person in die Lage versetzt werde, im Nahbereich der Wohnung die üblichen Alltagsverrichtungen selbst zu erledigen. Nach der Rechtsprechung des BSG seien aber nur solche Hilfsmittel zu gewähren, mit denen gehbehinderte Menschen fußläufige Entfernungen bewältigen können.

Anspruch auf mittelbaren Behinderungsausgleich

Hier würden die Rollstuhlzuggeräte und das Therapiedreirad mit Motorunterstützung „das Maß des Notwendigen“ überschreiten. Es bestehe kein Grundbedürfnis, sich den Nahbereich um die Wohnung schneller als mit durchschnittlicher Schrittgeschwindigkeit zu erschließen. So könne mit dem Rollstuhlzuggerät sogar eine Geschwindigkeit von bis zu 25 Stundenkilometer erreicht werden. Im ersten Verfahren verwies die Krankenkasse den Kläger auf einen günstigeren „restkraftunterstützenden Aktivrollstuhl“.

Das BSG sprach in allen drei Fällen den Klägern das gewünschte Hilfsmittel zu. Allerdings könnten sie das Hilfsmittel nicht verlangen, um den Erfolg ihrer Krankenbehandlung zu sichern oder einer drohenden Behinderung vorzubeugen. Hierfür fehle es bereits an einer entsprechenden Behandlungsempfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), der Richtlinien zu neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden erlässt.

Mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention hätten die Kläger aber Anspruch auf mittelbaren Behinderungsausgleich und das Recht auf „persönliche Mobilität“. Um ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen, müssten sie trotz ihrer Mobilitätseinschränkungen „die für die üblichen Alltagsgeschäfte maßgeblichen Orte“ erreichen können. Dazu gehörten der Einkauf und der Apothekenbesuch. Ob auch der Arztbesuch dazu zählt, ließ das BSG offen.

Bereits am 7. Mai 2020 hatte das BSG bekräftigt, dass gehbehinderte Menschen ein Recht auf Mobilität haben und sich den Nahbereich ihrer Wohnung „zumutbar und in angemessener Weise“ erschließen können. Gehbehinderte Menschen dürften daher von den Krankenkassen nicht nur auf eine Minimalversorgung mit Hilfsmitteln - wie etwa einen Schieberollstuhl - verwiesen werden. Sie hätten ein Wahlrecht, welches Hilfsmittel sie nutzen wollen, vorausgesetzt, dieses biete wesentliche Vorteile bei der Mobilität.

Az.: B 3 KR 13/22 R, B 3 KR 14/23 R und B 3 KR 7/23 R (BSG, Handkurbelrollstuhlzuggerät)

Az.: B 3 KR 7/19 R (BSG, Recht auf Mobilität)

Frank Leth