Ein epd-Interview mit Gert Scobel

Der Moderator und Journalist Gert Scobel (60) beschäftigt sich seit 2008 in seiner wöchentlichen Sendung "Scobel" bei 3sat mit Themen aus Wissenschaft, Philosophie, Ethik, Kultur und Gesellschaft. Seit Beginn der Corona-Pandemie hat er die Sendung mehrfach dem Thema Corona gewidmet und mit Philosophen und Ethikern darüber gesprochen, wie das Virus die Gesellschaft verändert. Scobel hat Philosophie und Theologie studiert und beim Hessischen Rundfunk volontiert. Seit Oktober 2019 veröffentlicht er in Kooperation mit 3sat einmal wöchentlich ein Video auf dem Youtubekanal "Scobel", in dem er über ähnliche Themen wie in seiner Sendung spricht. Diemut Roether sprach mit ihm über Journalismus, die Berichterstattung über die Corona-Krise und die Rolle der Medien angesichts der Einschränkungen der Öffentlichkeit. 

epd: Wie informieren Sie sich in der Corona-Krise? Hat sich Ihr Medienverhalten in den vergangenen Wochen verändert?

Gert Scobel: Ich informiere mich möglichst vielfältig. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es jetzt wirklich darauf ankommt, möglichst viele Stimmen zu hören. Auch die Stimmen "realer" Leute, weil die Erfahrungen, die sie machen, so unterschiedlich sind und so unausdenkbar, im Sinne von: das hätte man sich vorher nicht überlegen, nicht ausdenken können, obwohl es tatsächlich passiert ist. Ich bin sehr dankbar für diese "realen Kontakte", etwa zu Ärzten, zu Selbstständigen, zu Restaurantbesitzern - also wirklich einer großen Bandbreite. 

Sind das Bekannte oder Freunde von Ihnen? 

Scobel: Das sind zum Teil Bekannte, das sind aber zum Teil auch Menschen, die mich gar nicht kennen aber anmailen um in Kontakt zu treten. Zur eigenen Information lese ich vor allem die News-Seiten von "Science" und "Nature". Ich schaue mir auch den "Corona-Hub" an (http://u.epd.de/1hzg), das ist eine deutsche Plattform, die Informationen der Johns-Hopkins-Universität, vom Robert-Koch-Institut und anderen zusammenführt, das ist in meinen Augen das Beste, was es in Deutschland an Information gibt. Dort gibt es beispielsweise auch eine Rückrechnung, also die Angaben, wann Daten bekanntgegeben wurden und wann die Infektionen passiert sind.

Ich habe auch in meinem normalen Vor-Corona-Leben relativ regelmäßig "Spektrum", "Nature", "Science" und andere Quellen genutzt, aber durch den Newsfeed und die vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die lange vor Print und Peer Review schon online gestellt werden, bekommt Corona noch einmal eine neue Dynamik. Ich höre viel Hörfunk, weil ich den Deutschlandfunk liebe, und höre außerdem häufiger HR-Info. Ungewöhnlich für mich ist, dass ich derzeit vergleichsweise viel Fernsehen schaue. Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht, weil ich lange nur online unterwegs war. Ich habe mir fast alle politischen Talkshows zu Corona angesehen, was ich normalerweise aus verschiedenen Gründen nicht mache. 

Was nehmen Sie aus den Talkshows mit? 

Scobel: Ich finde, dass das Konzept von Frank Plasberg derzeit relativ wenig funktioniert, aber jemand wie Markus Lanz, über den man sich in normalen Zeiten wirklich streiten kann, für mich in den letzten Wochen sehr gewonnen hat - unter anderem deshalb, weil er Fachleute relativ ausführlich erklären lässt. Das ist das, was eigentlich Wissenschaftssendungen machen müssten. 

Und Plasberg lässt die Leute nicht ausreden?

Scobel: Richtig. Da treffen zu viele zu unterschiedliche Positionen aufeinander mit dem Ziel: Lass uns einen Streit entfachen. Ich setze in meiner eigenen Sendung absolut auf das Gegenteil, nämlich auf ein Miteinander-Reden, um ein komplexes Thema zu umkreisen. Das kann und muss man von unterschiedlichen Perspektiven aus tun, die sich zum Teil auch widersprechen, aber dann sind die Widersprüche nicht parteipolitisch oder durch Lobbyismus motiviert, sondern durch die Komplexität der Realität selbst begründet. 

Ich habe den Eindruck, Sie setzen eher auf ein didaktisches Konzept. Sie bemühen sich darum, Dinge zu durchdringen, so dass die Zuschauer sie hinterher besser verstehen. 

Scobel: Ja, die Leute sollen hinterher schlauer sein als vorher, und das sind sie in politischen und auch in anderen Talkshows meist nicht. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber normalerweise sind Aufklärung und Erkenntnisgewinn nicht das erklärte Ziel. 

Was ist denn bei Ihrem Medienkonsum das Highlight? Was bringt Ihnen am meisten? Sind das die wissenschaftlichen Publikationen? 

Scobel: Nicht unbedingt. Ich habe mir im Internet einen TED-Talk angeschaut von der Gesundheitsexpertin Alanna Shaikh, der, wenn ich mich richtig erinnere, schon ein paar Wochen alt ist. Sie bringt darin bereits genau das, was jetzt passiert, auf den Punkt. Also schon vor der Zeit. Das war ein echtes Aha-Erlebnis für mich. 

Hören Sie den Podcast mit dem Virologen Christian Drosten? 

Scobel: Dazu komme ich leider überhaupt nicht. Podcasts höre ich im Moment so gut wie nicht, obwohl ich das normalerweise mache. 

Was würden Sie sich von den Medien - nicht von den Fachmedien, sondern von den Medien im Allgemeinen - zurzeit wünschen? 

Scobel: Das klingt jetzt ziemlich wohlfeil, wenn ich sage: Aufklärung. Aber es trifft es am besten. Es ist eine Gratwanderung zwischen "was wissen wir" und "was wissen wir nicht". Und wir wissen sehr vieles nicht, das wird jetzt auch der Öffentlichkeit immer klarer. Ich glaube, die Öffentlichkeit dachte, Wissenschaft sei immer eindeutig und ganz klar, aber das war nie so. Und das Zweite ist eine Gratwanderung zwischen Resilienz stärken und auf der anderen Seite kritisch und klar falschen Hoffnungen zu begegnen, falschen Erwartungen, und diese kritisch auseinanderzunehmen. Und wenn ich sage, "Resilienz stärken", dann klingt das vielleicht zu pädagogisch und fast zu therapeutisch für Journalismus, aber es gehört für mich unbedingt dazu. 

Falsche Erwartungen: Was meinen Sie damit? Meinen Sie die Öffnungsdiskussion?

Scobel: Beispielsweise die Idee, dass das Ganze sehr schnell vorbei sein wird. Wann können wir denn in den Urlaub fahren? Werden wir alle sehr viel gelernt haben durch das, was passiert? Wird das eine nachhaltige Entwicklung haben? Ich hoffe das zwar auch, aber ich fürchte, dass es nicht der Fall sein wird. Über solche Fragen, die übrigens mehr mit Kultur und Philosophie als Wissenschaft zu tun haben, muss man nachdenken, aber eben kritisch nachdenken. 

Zurzeit ist das öffentliche Leben so stark eingeschränkt, dass auch die Öffentlichkeit gefährdet ist. In dieser Situation kommt den Medien eine ganz wichtige Funktion zu. Sie müssen diese Öffentlichkeit herstellen. Finden Sie, dass sie diese Funktion ausreichend erfüllen? 

Scobel: Ich glaube, man muss unterscheiden zwischen überregionalen und lokalen Medien. Was ich zurzeit mitbekomme, ist, dass in den lokalen Medien durchaus sehr viel über konkrete Probleme berichtet wird. Das ist eine wichtige Form, Öffentlichkeit herzustellen. Wenn ich mir die überregionalen Medien strukturell anschaue und die Pluralität der Perspektiven, dann ist auch das natürlich eine Form, Öffentlichkeit herzustellen. Man kann sich immer wünschen, dass all das noch besser geht, aber wenn ich die Berichterstattung jetzt vergleiche mit 2015, mit der Flüchtlingskrise, dann sind wir diesmal deutlich besser aufgestellt.

Die ersten kritischen Stimmen, die 2015 berechtigte Detailfragen stellten, etwa "Wie machen wir das denn, wenn da 300 Leute ankommen und wir sie mit Wasser versorgen oder in Containern unterbringen müssen?" - waren meiner Wahrnehmung nach zuerst im Hörfunk zu hören, zwei bis drei Wochen vor dem Fernsehen. Am Ende waren es diese unbeantworteten Fragen und konkreten Probleme, die in der Addition zum Kippen der Situation geführt haben. Jetzt hingegen habe ich das Gefühl, dass Hörfunk und Fernsehen von Anfang an eine große Vielzahl von Stimmen eingeholt haben. Das fand ich persönlich eine echte Verbesserung im Vergleich zu 2015. 

Ich finde es erstaunlich, dass diese im Moment doch sehr starken Einschränkungen der persönlichen Freiheit so lange so klaglos hingenommen werden. Ich frage mich, wie lange das noch so gehen wird und ob das gut geht, wenn das so klaglos hingenommen wird. 

Scobel: Das kann auf Dauer natürlich nicht gut gehen. Aber ehrlich gesagt, haben wir doch auch deshalb eingewilligt und stillgehalten, weil die Vorschläge rational waren und die Politik uns auf einmal gezeigt hat, dass sie rational handelt und es innerhalb eines Tages möglich ist ein notwendiges Gesetz vorzuschlagen und zu verabschieden. Haben wir uns nicht immer gewünscht, dass es nicht mehrere Monate oder gar Jahre dauert, sondern, dass es schneller geht? Mein Eindruck war, dass parteiübergreifend agiert wurde, auch wenn in der Sache vielleicht gelegentlich Fehler gemacht worden sind. Und Fehler sind ehrlich gesagt unvermeidlich, gerade weil schnelles Handeln gerade am Anfang notwendig war, obwohl wir vieles nicht wussten und wissen konnten. Im Nachhinein ist man immer klüger, aber nach allem, was ich wissenschaftlich darüber weiß und in Echtzeit verfolgen konnte, waren die meisten Entscheidungen richtig. Ich wüsste nicht, was man damals hätte anders machen sollen. Und wenn Sie das schwedische Modell anschauen, das ja ein größeres Laissez-faire propagiert, dann bekommt Schweden zunehmend Probleme. 

Sind wir obrigkeitshörig? Na gut, das sagt man immer von den Deutschen. Ich hatte das Gefühl, alle haben verstanden, dass jetzt endlich die parteiideologischen Auseinandersetzungen außen vor bleiben, weil es jetzt wirklich ums Eingemachte geht. Um Gesundheit und Leben und auch um Fundamente von Demokratie und Wirtschaft. Und nicht etwa, weil rechte oder linke Politiker die Demokratie aushebeln wollten. Je entspannter es wird, desto mehr schiebt sich allerdings wieder die Parteipolitik in den Vordergrund.

Nun hatten wir auch das Beispiel von Frankreich, Italien und Spanien vor Augen, wo die Auswirkungen der Pandemie schon früher viel schlimmer waren und die Einschränkungen viel stärker sind. Sie haben selbst auch einige Sendungen gemacht zur Corona-Krise. Sie machen seit einiger Zeit auch einen Video-Podcast auf Youtube, und Sie haben auch Ihre Sendung "Scobel" mehrmals dem Thema gewidmet. Was war Ihnen dabei wichtig? 

Scobel: Nehmen wir meine letzte Sendung zu dem Thema. Das war die Woche, in der viele Leute zunehmend anfingen, über den Exit zu reden. Dazu kann man unterschiedliche Positionen haben, die wurden aber in vielen Medien schon diskutiert. All das war bereits zu hören oder zu lesen. Uns kam es darauf an, die Struktur dieser Auseinandersetzung und die Struktur dieser Krise zu untersuchen. Wie? Indem wir analysiert haben, dass das Problem, mit dem wir es hier fundamental zu tun haben, auf einer sehr abstrakten Ebene ein Fundamentalproblem der Moderne ist: nämlich die Komplexität unserer Welt, nicht nur unserer Gesellschaft, sondern unserer Welt. Da ist zum Beispiel die Komplexität, die entsteht, wenn unterschiedliche Typen von Daten aus unterschiedlichen Bereichen zusammengebracht werden müssen; die Komplexität von regionalen Unterschieden, die Komplexität von Wissen überhaupt, also etwa die unterschiedliche Expertise von Epidemiologen und Virologen, die man mit der von Lungenfachärzten und Pathologen zusammenbringen muss. Alle sagen tendenziell etwas anderes; und dann geistern auch noch irgendwo die Verschwörungstheorien rum. Wir haben es also mit einer wirklichen Vielfalt zu tun. Komplexität ist ja nicht Kompliziertheit. Komplexität bedeutet, dass ich es mit einer Vielfalt von Dimensionen oder Perspektiven zu tun habe, die nicht auf eine einzige Stimme - Luhmann würde sagen, auf ein einziges Teilsystem der Gesellschaft - reduziert werden kann. 

Das ist letztlich ein Problem, mit dem wir in den letzten Jahrzehnten immer schon zu tun hatten. Zum Beispiel lässt sich die Diskussion über den Neoliberalismus übersetzen in die Frage, inwiefern verschiedene Teilsysteme der Gesellschaft auf ein einziges, nämlich auf ein ökonomisches reduziert werden können. Wenn ich das ablehne: wie koppeln dann all diese Systeme miteinander, also zum Beispiel das Gesundheitssystem mit dem ökonomischen System? Es wurde behauptet: Krankenhäuser sollen Profitcenter sein. Dabei wird alles reduziert auf einen einzigen Aspekt und einen einzigen Diskurs. 

Unsere Analyse war: Erstens entspricht das nicht der Realität, sondern die Realität ist komplexer. Zweitens, wenn die Realität also in Wahrheit komplex ist: Wie gehen wir damit um? Diese Fundamentalfrage, die entscheidend ist für unser Handeln, wurde in den Sendungen, die ich gesehen habe, im Grunde nie gestellt. Die Standard-Antwort, die man in diesen Sendungen normalerweise sehr schnell erhält, lautet: In komplexen Situationen entscheiden die demokratisch gewählten Politikerinnen und Politiker. Richtig, aber wie bitte machen sie das? Wie entscheidet denn die Politik unter Bedingungen eingeschränkter Rationalität, will sagen unter Bedingungen fundamentalen Nicht-Wissens? Können wir das dann noch rationale Entscheidungen nennen? Wie also kommen diese Entscheidungen zustande, nach welchen Kriterien? Mit anderen Worten: Wie verarbeitet Politik Komplexität? Das war und ist unserer Wahrnehmung nach eine kaum gestellte Frage. 

In den journalistischen Kommentaren, die ich lese, höre oder sehe, wird häufig eher nach einer Reduktion dieser Komplexität gerufen. Da wird dann der föderale Flickenteppich kritisiert, dabei sagen Sie ja gerade, es gibt regionale Unterschiede, und vielleicht gibt es die sogar zu Recht. Vielleicht können wir daraus ja auch etwas lernen. 

Scobel: Ich glaube, es gibt diese Unterschiede, das höre ich auch von Medizinern. Und es ist sehr schwer zu erklären, woran das liegt. Zum Beispiel habe ich sehr oft gehört, dass Menschen, die an der Herz-Lungen-Maschine sind, plötzlich versterben. Die sind scheinbar gut eingestellt, stabil und eine Stunde später sind sie tot. Jetzt gibt es erste Hinweise darauf, dass das Virus möglicherweise auch neurologisch, also über das Nervensystem angreift. Auch das ist noch nicht klar, aber es wird jetzt erstmals in diese Richtung geforscht. Durch die Wahrnehmung von regionalen Berichten schält sich also unter Umständen etwas heraus, das auch strukturell von Bedeutung ist. Das gilt auch politisch. Manchmal ist Föderalismus großartig - mal, wie in vielen Bildungsfragen, eher desaströs. Unsere Aufgabe ist es, Komplexität zu reduzieren, ja; aber eben so, dass wir dabei der Wirklichkeit gerecht werden statt unserer eigenen allzu vereinfachten Vorstellung von ihr.

Es gibt ja auch Berichte, die eine Korrelation zwischen den schweren Verläufen der Covid-19-Erkrankung und Luftverschmutzung herstellen. Das gilt besonders für Norditalien und Madrid, wo die Belastung der Luft als erschwerender Faktor gesehen wird. 

Scobel: Ein Lungenfacharzt in der Nähe von Heinsberg, der mit dem Problem zu tun hat, hat mir gesagt, dass Raucher einen viel schwierigeren Stand haben. Und die ersten Berichte aus China deuteten darauf hin, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Schwere des Verlaufs gibt. Haben die betroffenen Chinesen möglicherweise viel geraucht? Oder lag es doch an der Luft? Das Problem ist, dass es noch sehr lange dauern wird, bis wir definitive Daten haben. In der Sendung habe ich versucht zu vermitteln, wie wir überhaupt in Zeiten sehr komplexer Ereignisse und Strukturen - diese haben wir ja nicht erst seit dem Auftreten des Virus, die hatten wir schon lange vorher - strukturell mit dieser für uns problematisch gewordenen Komplexität umgehen. Sowohl in der kognitiven Psychologie als auch in der Sozialpsychologie wie in anderen Bereichen ist dieses Problem nicht wirklich gelöst. Öffentlich wird darüber sehr wenig diskutiert. 

Das grundlegend Neue an der Coronakrise ist, dass diese scheinbar sehr abstrakten Gedanken über die tatsächliche Komplexität unserer Alltagswelt mit einem Schlag weltweit und in Echtzeit Milliarden von Menschen intuitiv, sehr hautnah emotional zugänglich geworden ist. Sie haben direkt erfahren, wie eng zum Beispiel Gesundheit mit Wirtschaft verknüpft ist. Das spiegelte vorher bereits die "Pflegedebatte" oder die Debatte um die Privatisierung von Krankenhäusern. Aber all das ging den meisten Leuten letztlich nicht wirklich nahe. 

Haben die Medien mit der Komplexität ein Problem, weil es Aufgabe des Journalismus ist, Komplexität zu reduzieren? 

Scobel: Genau da, finde ich, machen möglicherweise viele Beobachter der Medien und auch Medienkritiker und wir Journalistinnen und Journalisten selbst im Moment einen Fehler. Sie glauben, es wäre die originäre Aufgabe von Journalisten, als Einzigen in der Welt, Komplexität zu reduzieren. Das stimmt nicht. Systemtheoretisch reduzieren alle Teilsysteme auf ihre Weise Komplexität. Anzunehmen, es gäbe einen obersten Standpunkt, der sozusagen alle Komplexitäten der Teilsysteme zusammenfasst und den würden dann die Journalisten Tag für Tag darstellen, so dass man nur regelmäßig Zeitung lesen und Podcast hören muss, um den Überblick zu haben: das anzunehmen ist eine vollkommene Verkennung der Realität und unseres Berufsstands.

Ich glaube, dass ein Teil der Kritik, die der Journalismus im Moment abbekommt, damit zu tun hat, dass Menschen jetzt erstmals merken, wie schwierig es ist, mit Komplexität umzugehen. Das ist vielen vorher überhaupt nicht bewusst geworden. Und jetzt sind Journalisten auf einmal systemrelevant, weil sie natürlich in der Kommunikation tatsächlich eine wichtige Funktion haben, aber Journalisten sind ja nicht diejenigen, die am Ende alleine die Komplexität der Welt lösen würden oder alleine virologische Debatten kommunikativ so aufbereiten, dass die Politik nur noch dem zu folgen braucht, was in Talkshows verhandelt wird. Derzeit sehe ich die Gefahr, dass Moderatoren und Moderatorinnen zunehmend als Ersatzpolitiker agieren wollen.

Das ist ja auch nicht ihre Aufgabe. 

Scobel: Genau. Deshalb würde ich sagen: ein Virologe versucht auf seine Art, die Komplexität von Daten und Befunden zu reduzieren. Das ist eine andere Form der Komplexitätsreduktion als die, an der Journalisten arbeiten müssen. Was wir machen müssen, ist möglichst viele dieser Teilantworten und Perspektiven erstens sachgemäß und zweitens verständlich möglichst objektiv zu kommunizieren. Darüber hinaus halte ich im Moment vor allem eines für unsere Kernaufgabe: das Nichtwissen immer wieder zu kommunizieren. 

In der Regel sind wir Journalisten darauf aus, in erster Linie das, was wir wissen zu kommunizieren und dabei auch Kritik oder Verdächtigungen mit zu kommunizieren, das heißt: Wir wissen zwar nicht genau, ob xyz wirklich der Fall ist, aber wir denken, dass … In der jetzigen Situation haben wir es im Gegensatz dazu mit einer objektiven Form von Unwissen zu tun, der niemand entkommen kann. Das ist eine völlig andere Situation. Es geht nicht um das Unwissen, das entsteht, weil mir eine Regierung etwas vorenthalten oder mich betrügen will, etwa weil eine autokratische Elitenriege am Ruder ist - das ist eine andere Form von Nichtwissen und Dummhalten. Gegenwärtig weiß ich und wissen wir alle etwas nicht, weil die objektive Struktur der Welt so ist, dass man es im Moment gar nicht wissen kann. Das scheint für viele Menschen neu zu sein. Dieses Nichtwissen hat aber ganz elementar mit unserer Zeit zu tun und wir als Journalisten müssen lernen, das mit zu kommunizieren. 

Müssen wir also lernen zu sagen: Ich weiß es nicht? 

Scobel: Ja! Und zwar nicht nur: Ich weiß es nicht, weil ich blöd bin, sondern ich weiß es nicht, weil ich es prinzipiell nicht wissen kann. Aber ich kann sehr genau sagen, warum! Weil mir zur Beantwortung A und B und C fehlen. Das muss ich mitkommunizieren. 

Wird das Ihrer Meinung nach derzeit ausreichend geleistet, die Unsicherheit mitzukommunizieren? 

Scobel: Das sind ja zwei verschiedene Kategorien: Die Unsicherheit ist eine psychologische Kategorie und möglicherweise eine Folge des Mangels an Wissen. Der Mangel an Wissen oder Nichtwissen ist jedoch eine erkenntnistheoretische oder auch wissenschaftliche Kategorie. Das eine hat natürlich mit dem anderen zu tun. Denn wenn ich schnell wichtige Entscheidungen treffen muss in einer Situation, die aus prinzipiellen Gründen unüberschaubar ist, macht mir das Angst, ich bin unsicher. Wir haben dafür wissenschaftlich, politisch und sozial Techniken entwickelt: Die Risikofolgenabschätzung etwa ist eine Technik, die wir entwickelt haben, um mit unüberschaubaren Risiken umzugehen. Aufgrund von Wahrscheinlichkeitsanalysen wird uns gesagt, eine Kernschmelze werde sich einmal in 100.000 Jahren in einem Atomkraftwerk ereignen. Also passiert es eigentlich nicht. Es passiert auch nicht, dass es zwei Mal hintereinander in zwei Dekaden einen kompletten Börsencrash gibt. Statistisch gesehen kommt das nicht vor. Das ist eine Singularität, das haben wir alle paar hundert Jahre mal. Die Realität sah völlig anders aus.

Mit anderen Worten: Wir haben ein prinzipielles Problem im Umgang mit Risiken, die per Definition nicht kalkulierbar sind. Genau das macht ja ein Risiko aus. Das heißt aber, dass auch unsere statistischen Analysen des Nichtkalkulierbaren versagen können, und das macht uns Angst, denn darauf bauen wir ja. Meiner Ansicht nach ist ein Großteil der AfD-Debatte, die wir hatten, bevor Corona ausbrach, in Wahrheit eine sehr verschobene, schräg geführte, unter ideologischen und lobbyistischen Vorzeichen geführte Debatte über den richtigen Umgang mit Komplexität in der Gesellschaft gewesen. Nur wurde das nicht sachgemäß thematisiert. 

Sie haben am Anfang darüber gesprochen, wie wichtig Sie es finden, mit "realen Menschen" über deren Probleme mit Corona zu sprechen. Auch bei "Scobel" haben Sie kürzlich gesagt, es wäre wichtig, in Gremien nicht nur Fachleute und Funktionsträger zu berufen, sondern auch normale Menschen. Wann laden Sie solche Menschen in Ihre Sendung ein? 

Scobel: Wir haben darüber schon mehrfach diskutiert. Wir haben ein paarmal versucht, diese Stimmen etwa durch Voxpop in der Sendung abzubilden. Ist uns das gut gelungen? Wahrscheinlich eher nicht. Das ist sicher ein Thema, an dem wir weiter arbeiten müssen. 

Sie machen ja nicht nur die Sendung "Scobel" bei 3sat, sondern Sie machen seit einem halten Jahr auch Videos auf Youtube. Welches Format ist Ihrer Ansicht nach zurzeit in dieser Krise das angemessenere Format um zu kommunizieren? 

Scobel: Meine Videos auf Youtube sind nach konventionellen Maßstäben sicher viel zu lang und überfrachtet. Ich würde die Frage gern an Sie zurückgeben und Sie fragen: Wenn Sie beide Formate vergleichen, wovon haben Sie derzeit mehr? Als Macher kann ich das selber nur schwer beurteilen. Ich glaube, dass es da große Unterschiede gibt und ich glaube auch, dass dieses Youtubemäßige, was viele aus Gründen des Purismus gern aus dem Fernsehen raushalten wollten, dem Fernsehen extrem guttut. 

Ich bin da etwas zwiegespalten. Sie bemühen sich in Ihren Youtube-Videos um eine angemessene Ansprache, Sie duzen ihr Publikum zum Beispiel, das machen Sie im Fernsehen nicht. Die Videos sind, wie Sie sagen, lang, die Auflockerung mit den Zeichnungen finde ich gut. Mein Gefühl ist, das ist im Moment ein sehr angemessenes Format. Aber in meiner Medienbeobachtung stelle ich gerade fest, dass ich in letzter Zeit zu viel solches Youtubemäßiges im Fernsehen gesehen habe: Zu viele Zoom- oder Skype-Interviews, zu viele geteilte Bildschirme. Ich beobachte auch, dass die Gespräche mir zu privat werden, da wird erst einmal gefragt, wie es dem anderen geht, und solche Gespräche werden eins zu eins gesendet. Da muss ich sagen: So viel Zeit habe ich trotz Corona nicht. 

Scobel: Das ist in gewisser Weise eine Antwort auf die Frage, die Sie mir eben gestellt haben: wann ich "normale" Menschen in die Sendung einlade. Es sollte eben in der Sendung persönlich, aber nicht privat werden. Ich stimme Ihnen zu, dass die Stimmen von "normalen" Menschen, die keine Fachleute sind, durchaus zu Wort kommen müssen. Die Frage ist nur: Muss das immer im Dialog sein, oder kann man deren Anliegen nicht auch strukturell vermitteln, durch Fragen zum Beispiel, oder durch einen Standpunkt oder eine Haltung? Mir wird das Private und Skype-Geschalte inzwischen auch ein bisschen zu viel. Aber das ist etwas anderes als die Frage, ob Youtube nicht für bestimmte Fragen und Themen wirklich geeignet ist. Das habe ich für mich noch nicht abschließend geklärt. Ich habe beispielsweise einen Youtube-Film gemacht über das sogenannte chinesische Zimmer. Das ist ein in der Frage der Künstlichen Intelligenz vieldiskutiertes Gedankenexperiment. Ich glaube nicht, dass man das im Fernsehen besser machen könnte, und ich glaube vor allem nicht, dass man mir im Fernsehen dafür die notwendige Zeit lassen würde, so genau zu werden und in die Tiefe zu gehen. Die bessere Form der Vermittlung ist in dem Fall tatsächlich die über Youtube. 

Die Youtube-Filme sind in meinen Augen auch gut geeignet, um Prozesse und laufende Diskussionen abzubilden. Welche Reaktionen erhalten Sie auf Ihre Youtube-Filme? 

Scobel: Wir sind total überrascht, dass wir wenige polemische, abqualifizierende Anti-Kommentare erhalten. Stattdessen haben wir extrem viele positive Kommentare. Uns überrascht auch die lange Zeit, die die Nutzer dranbleiben. Bei einem Video, das 28 Minuten dauert, schauen die Leute im Schnitt fast 20 Minuten lang zu. Und viele sehen es sich offensichtlich sogar ganz an. Das Feedback und diese Zahlen sind überraschend gut für uns. Wir haben nicht mit so viel positivem Feedback gerechnet. 

Entstehen dadurch auch Diskussionen, die Sie aufgreifen und auf die Sie in späteren Videos noch einmal eingehen? 

Scobel: Das ist schon passiert. Es kommen zum Teil wirklich gute Anregungen. Man kann natürlich nicht alles umsetzen, zumal wir im Schnitt nur ein Video pro Woche bei Youtube einstellen. Da kamen durchaus Anregungen, die ich dann in der Sendung aufgenommen habe. Natürlich habe ich bei Youtube und bei der Sendung unterschiedliche ZuschauerInnen, für mich besteht aber zwischen beidem eine Verbindung und ich kann das eine in das andere überführen. Ich kann also lernen dadurch. 

Mir ist in der aktuellen Berichterstattung zur Corona-Krise in den letzten Wochen auch aufgefallen ist, dass ich noch nie so viele Kinder gesehen und gehört habe. Dadurch, dass so viele Menschen im Homeoffice sind und gleichzeitig ihre Kinder zu Hause betreuen, kommen die Kinder auch selbst zu Wort und sprechen darüber, wie die Situation für sie ist. Sogar die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" hat kürzlich einen Artikel über Homeoffice mit Kinderzeichnungen illustriert. Könnte die Krise dazu führen, dass sich der mediale Blick auf das Familienleben verändert? 

Scobel: Das wäre eine große Hoffnung von mir. Ich engagiere mich seit vielen Jahren bei zwei Themen, die mir wirklich ein Anliegen sind: Die Aufarbeitung von Kindesmissbrauch und das Dauerthema Kinderarmut. Die Kinderarmut ist im letzten Jahr wieder gestiegen, sie steigt seit 20 Jahren, egal welche Regierung am Ruder ist. Ich fürchte aber nach den Erfahrungen, die wir in den letzten 20 Jahren gemacht haben, dass sich relativ wenig ändern wird. Wenn die Wirtschaft in eine heftige Rezession stürzt, wird das passieren, was immer passiert: Die konservativen Kräfte werden Oberhand gewinnen, die Frauen werden zurück an Küche, Herd, Kinderbetreuung gebunden werden. Diesen Rollback gab es eigentlich immer in Zeiten wirtschaftlicher Krisen. Ich fürchte, dass das auch diesmal der Fall sein wird. Eine klare Lehre wäre doch, wenn man Kinder und Familien wirklich nach vorne bringen will, dass man endlich eine gute Ganztagsschule für alle einführt. Mit einem soliden Frühstück, einem soliden Mittagessen, mit der Möglichkeit von Sport, Musikunterricht und Kunst für alle am Nachmittag. Werden wir lernen? Ich hoffe das, ich bin aber sehr skeptisch. 

Was können die Medien lernen aus der Krise? 

Scobel: Dass sie, ob sie wollen oder nicht, Teil einer Lösung sein werden und eine größere Verantwortung haben als gedacht. Ein Teil des Fernsehens könnte lernen, dass unsere erste Aufgabe nicht die Bespaßung der Republik ist, sondern dass wir gemeinsam versuchen müssen, auch auf unserer Medienschiene neue Öffentlichkeiten herzustellen, um damit Freiheit und Gemeinwohl zu fördern und - das klingt jetzt sehr pathetisch - daran arbeiten, unsere Gegenwart besser zu gestalten mit Blick auf die Zukunft. Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir eine nachhaltige Transformation hinbekommen. Das waren übrigens auch die Themen, mit denen ich mich beschäftigt habe, bevor Corona in den Blick geriet. Eigentlich ist jetzt eine gute Zeit, um diese Dinge noch radikaler zu thematisieren und sie später den Politikern kritisch vorzuspiegeln und zu sagen: Erinnert euch, das wolltet ihr machen. Lieber mal einen Gast weniger in eine Talkshow einladen und dafür ein intensiveres Gespräch führen. Ein Gespräch, das auch nicht nur dem einen die Kritik des anderen um die Ohren haut, sondern lösungsorientiert ist. Wir haben jetzt festgestellt: Sie haben diese unterschiedlichen Positionen, liebe Gäste, aber Sie und wir müssen zusammenkommen. Wie wollen Sie zusammenkommen? 

Heißt das, Sie setzen auf weniger Konfrontation und mehr Konsens in medialen Formaten? 

Scobel: Nein, das ist genau das, was ich nicht meine. Es geht nicht darum, einen grokomedialen Konsens herzustellen. Es geht vielmehr darum, neue Wege zu finden, gemeinsam mit unterschiedlichen Perspektiven und Komplexität umzugehen. Das bedeutet Streit, einerseits. Aber eben im Wissen darum, dass keiner die letzte Antwort hat und wir stattdessen gemeinsam eine bessere Antwort finden müssen, denn wir alle müssen uns verhalten, wir müssen handeln, wir müssen steuern. Es geht nicht um Konsens, sondern darum kritisch, klug und freundlich auszuloten, was das klügste, im Idealfall sogar weise Verhalten ist. Konsens, das würde der Aufgabe des Journalismus widersprechen. Es geht nach wie vor um kritische Berichterstattung. Das will ich wirklich nicht aufgeben. Wir befinden uns ja im Hegel-Jahr, 250 Jahre Hegel. Es ist wie bei Hegel: These - Antithese. Das kennen wir. Aber dann darf ich hartnäckig weiter danach fragen, wo und wie wir denn den Übergang zum Neuen finden und wie die Transformation in etwas Besseres, das uns allen dient, erreicht werden kann.  

Aus epd medien 18/20 vom 1. Mai 2020