Die infrastrukturelle Bedeutung von Medien und Journalismus / Von Otfried Jarren

Die Corona-Krise hat die Bedeutung von Journalismus und Medien neu in den Blick gerückt: Medien schaffen Gemeinschaft und Gesellschaft. Doch zugleich verschärft die Corona-Krise die Strukturkrise der Medien in Europa. Immer weniger Menschen sind bereit, für die gebündelten Angebote der Medien zu zahlen und bevorzugen auf sie zugeschnittene Informationen. Der Medienwissenschaftler Otfried Jarren plädiert in diesem Beitrag zur Überwindung der Strukturkrise für neue Formen der Zusammenarbeit unter den Medien. Jarren ist Professor emeritus mit besonderen Aufgaben am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich sowie Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin. Er ist auch Präsident der Eidgenössischen Medienkommission (EMEK), die den Schweizer Bundesrat berät.  

Unter den obwaltenden Bedingungen ist Journalismus schwieriger geworden: Auch Journalistinnen und Journalisten agierten während der ersten Phase der Corona-Pandemie lange Zeit vielfach vom Homeoffice aus. Ungewohnte wie unbekannte Arbeitsbedingungen. Dabei waren und sind die Erwartungen an die journalistischen Arbeiten in der derzeitigen Krisensituation aber besonders hoch: Es herrscht Unsicherheit, es ging und geht um viel, man erwartet vom Journalismus zuverlässige wie vielfältige Informationen. 

Die Arbeitsergebnisse erfahren derzeit gesellschaftsweit zwar hohe Nachfrage wie Anerkennung. Davon haben die Medienunternehmen profitiert: Die Reichweiten sind höher als in der Vor-Corona-Zeit, die Zahlen vor allem beim digitalen Verkauf und Abonnement konnten gesteigert werden. Aber ist das ein dauerhafter Effekt? 

Strukturkrise der Massenmedien

Den traditionellen Medien wie dem Journalismus wird zu Recht in unsicheren Krisenzeiten besonders vertraut. Die weiteren Perspektiven für Journalismus wie Medien sind dennoch unsicher. Ein Weiter so reicht wohl nicht aus. Presse wie Fernsehen büßen in der Krise, trotz Reichweitensteigerung, massiv an Werbeerträgen ein. Die schon seit einigen Jahren andauernde Strukturkrise der Massenmedien scheint sich fortzusetzen, wenn es den Medienunternehmen nicht gelingt, das Blatt zu wenden. Was sind die Ursachen für diese Lage? 

Durch Verlage gebündelt bereitgestellte journalistische Angebote verlieren seit längerem im Markt. Die Abonnementbereitschaft für Tageszeitungen geht ebenso zurück wie die Lesezeit. Die Bereitschaft zur Bindung an ein Medienprodukt wie ein Medienhaus schwindet. Und dies trotz massiver Marketing-, Werbe- wie PR-Maßnahmen. Die Medienzuwendung wie die Nutzung ändert sich deutlich und schnell: Ältere nutzen noch Zeitungen auf Papier, Jüngere hingegen abonnieren nicht und nutzen allenfalls digital. 

Der Nutzermarkt ist gespalten. Dadurch sinken die Reichweiten insgesamt und im Segment der kaufkräftigen und im Konsumverhalten noch nicht festgelegten und daher für die Werbung wie die PR besonders attraktiven jungen Gruppen können keine Markterfolge mehr erzielt werden. Zuwächse sind nicht mehr erwartbar. Bei den Verlagen schwinden die Werbeeinnahmen wie die Erlöse aus Abonnements und Verkäufen. Zugleich wächst der Aufwand für technische Investitionen, die Herstellung neuer Produkte (so Videos) wie für Marketing. Die Konkurrenz wird schärfer, teilweise globaler. 

Auch die Rundfunksender verlieren an Reichweite, so an Streaminganbieter. Die Kosten für den Erwerb bestimmter Programmrechte (wie Sport) steigen. Der Einstieg von Programmproduzenten wie Disney in den Streamingmarkt hat Auswirkungen auf den Kauf von Sendelizenzen wie auf die Preise. Der Einstieg von Amazon in den Programmrechtehandel wird die Konkurrenz um Content weiter verschärfen. 

Es kommt hinzu, dass auch andere Plattformen ihr Angebot ausbauen - um Traffic zu generieren und Transaktionsgeschäfte zu erhalten. Es ist nicht mehr ein Wettbewerb zwischen Medienunternehmen, sondern ein Wettbewerb mit gänzlich neuen Akteuren, mit neuen Technologien und neuen Interessen. Aus Sicht der publizistischen Medien handelt es sich um einen seit längerer Zeit beobachtbaren strukturellen Veränderungsprozess, der nun durch einen situativen - wenn man so will: einen konjunkturellen - Effekt (Corona) noch verstärkt wird. 

Selbst durch digitale Angebote werden die Verluste bei den Medien nicht wettgemacht. Es herrscht nämlich ein Überfluss an digitalen Angeboten. Und wer digital nutzt, der will deshalb weniger zahlen, eben weil es so viele unterschiedliche Möglichkeiten gibt. Egal ob Informationen über eine App zugänglich gemacht, auf einer Website bereitgestellt oder via Newsletter oder E-Paper verbreitet werden: Die Zahlungs- wie die Bindungsbereitschaft im digitalen Markt ist gering, markant geringer als zu Zeiten der gedruckten Zeitungen. 

So schnell wie man eine App herunterlädt oder von einer News-App zur nächsten App hastet, so rasch kann man ein Abonnement weder kündigen noch abschließen. Und Preise lassen sich unter diesen technischen Marktbedingungen nicht so einfach durchsetzen. Die Paywall mag dort gelingen, wo spezifische Leistungen für bestimmte Gruppen bereitgestellt werden können. Aber wer zahlt, der will ein publizistisch spezifisches Angebot. 

Sinkende Zahlungsbereitschaft

Newsletter florieren, sind aber vom Branding abhängig und damit von personalisierten Angeboten. Die sind aufwendig, erfordern sichtbare Akteure auf Anbieterseite, hohe Moderationskompetenzen zudem. Publizistisch können zwar interessante Angebote gemacht werden, aber eine eigentliche Basis- oder gar Grundversorgung findet nicht statt.  

Forschung wie Medienpraxis suchen nach den Ursachen für dieses Phänomen: einerseits die anhaltende Relevanz von Journalismus, jetzt gerade wieder einmal sichtbar, und andererseits die stark sinkende Zahlungsbereitschaft. Es ist wohl ein ganzes Ursachenbündel, nicht allein ein Faktor, der zu dieser für den Journalismus schwierigen Situation geführt hat. Und bislang ist nicht erkennbar, dass sich aus den kollektiven Erfahrungen mit der Corona-Pandemie ein Schub für den Journalismus ergibt. Vielleicht weil nicht mehr klar ist, was eigentlich Journalismus ist?  

Wir leben in einer Überflussgesellschaft, auch bezogen auf unsere Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten. Es gibt, dank Internet, Suchmaschinen und Social Media wie generell Plattformen, zahllose Möglichkeiten, sich überall und jederzeit zu informieren, Informationen mit anderen zu teilen, zu validieren und weiterzuleiten. Es gibt schlicht immer mehr Anbieter für Informationen. Neben den Medien sind es Firmen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), aber auch Hochschulen. Corporate Publishing nimmt zu. Fachmedien wie Fachjournalismus weisen - ebenso wie PR - deutliche Wachstumsraten auf. 

Viele Anbieter, vielfältige Weisen der Vermittlung, weitere Formen an Journalismus, und dann kommen neu noch unsere eigenen Netzwerke hinzu: Wir verlassen uns nicht mehr allein auf journalistische Profis, sondern ebenso auf die Expertise in unseren Gemeinschaften. Auf den Social-Media-Plattformen wird geteilt, validiert, diskutiert, kommentiert. Wir können uns mit allen, mit denen wir wollen, jederzeit selbstbestimmt austauschen. Und nicht nur das: Wir können mit Hilfe der Social Media selbst Öffentlichkeit herzustellen versuchen. Wir können für unsere Interessen werben, wir können uns mit anderen zusammentun, wir können Akteure direkt auf uns aufmerksam machen. 

Nicht nur Journalisten, wir selbst können als Influencer prominent, ja sogar - im Unterschied zu Journalisten - dabei reich werden. Nutzerinnen und Nutzer können kommunikative Macht erreichen, Geld verdienen. Hier ist ein Mitmach- wie Hoffnungsmarkt entstanden. Ein Markt, der äußerst attraktiv erscheint und den raschen Einstieg ermöglicht. 

Aus dem traditionellen Angebotsmarkt der Medien wurde faktisch damit ein Nachfragemarkt. Zudem ein sehr dynamischer Markt. Wir selbst verfügen mit den Apps über den Kiosk in der Tasche, wir müssen uns nicht mehr auf den Weg zum Kiosk oder zum Briefkasten machen. Und wir erhalten nicht nur am Morgen Neues, sondern immer - stets und ständig und das aus aller Welt. 

Wir wenden für unsere Informationsbeschaffungs- wie Kommunikationsmöglichkeiten sehr viel Zeit auf, auch Geld. Vor allem aber verschenken wir laufend unsere Daten. Das wissen wir zwar, aber wir merken das ja nicht sofort. Wir verdrängen die Konsequenzen, delegieren die Verantwortung an den Staat: Beim Datenschutz muss was passieren. Da wurde auch etwas getan, aber zugleich ignorieren wir individuell wie kollektiv dennoch diese Regeln, immer wieder: "Zustimmung". 

Facebook stellt keine Rechnungen

Unsere tagtäglichen Ressourcenaufwendungen im Netz sind erheblich, doch die sehen wir wenig. Die Abo-Rechnung für eine Zeitung wie die Rechnungen für den Rundfunkbeitrag, ja, die bekommen wir zu Gesicht - und wir sind dann überrascht, was wir zahlen sollen. Google, Facebook, Twitter - von denen kommen keine Rechnungen. Und da wir so viel umsonst geboten bekommen, Geiz macht scheinbar geil, nehmen wir nur zu gerne Datendiebstahl wie Qualitätsmängel bei manchen Anbietern und Angeboten in Kauf. Falschinformationen, Lügen, Hass, Fake News - das betrifft immer nur die anderen, wir können damit ja umgehen.  

Wir sind jetzt die Informations- wie Kommunikationsprofis. Wir wollen den Dingen selbst auf den Grund gehen - immerhin haben wir ja die Suchmaschine. Und mit der können wir umgehen. Die Massenmedien und der Journalismus haben uns immer nur etwas angeboten und wir konnten daraus lediglich auswählen. Gebündelte Leistungen mussten wir sogar integral von den Verlagen beziehen. Zwar können wir den Sport- oder den Kulturteil gleich entsorgen, aber den müssen wir mitbeziehen und mitbezahlen. Wer zahlt schon gerne für etwas, was er gar nicht will? 

Wahlfreiheit, selektiver Bezug von Leistungen - das gab es bei den Medien nie. Die "Daily Me" war zwar einmal technisch versprochen, wurde aber aus ökonomischen Gründen von den Verlagen nicht realisiert. Die Produktions-, Bündelungs- wie Distributionsprozesse hätte man integral innerhalb der Branche organisieren müssen. Noch ist die Branche aber nicht so weit in Sachen Kooperation. Nun machen News-Aggregatoren wie Suchmaschinen dieses Geschäft. 

Und die Fernsehprogramme kamen nur in linearer Form zu uns. Dort können wir schon seit längerem, dank der Kanalvielfalt, zappen oder zeitversetzt fernsehen und dabei die Werbung überspringen. Und nun ermöglichen im Fernsehmarkt andere Anbieter durch ihre Bündelungsaktivitäten das zeitversetzte Fernsehen wie das Überspulen der lästigen Werbung. 

Mischkalkulation 

Die traditionelle Medienbranche hat sich der differenzierten Interessen des Publikums nicht annehmen wollen (Presse) oder dürfen (öffentlicher Rundfunk). Nun haben beide erhebliche publizistische, ökonomische (Werbung, Reichweite) wie technische Nachteile. Die nötige Modernisierung unterblieb, Massenmedien wurden nicht smart. 

Die Massenmedien haben uns Komplettangebote gemacht, die entsprechend kalkuliert wurden. Durch die Mischkalkulation konnten sich die Redaktionen den Bezug von mehr als einer Nachrichtenagentur leisten oder Stellen für Auslandskorrespondenten einrichten. Wenn aber Profit- und Costcenter-Logik Einzug hält, dann kann es günstiger sein, die Auslandsberichterstattung von einem anderen Partner einzukaufen. Merkt ja keiner. Zudem ist das Gedächtnis kurz. Und es stimmt ja: Berichte aus dem fernen Ausland wie über Kultur finden weniger breites Interesse. Warum hier investieren?

Aus dem Markt der Medienanbieter wurde ein sich mehr und mehr individualisierender Nachfragemarkt. Nun haben nicht nur wenige, sondern viele die Wahl - und diese Wahl kann jederzeit neu via Smartphone erfolgen. Die Anbietervielfalt sorgt dafür, dass man sich nicht binden muss. Bindung aber, so in Form des Abonnements, gehört zum Geschäftsprinzip der publizistischen Medien. 

Im digitalen Nachfragemarkt suchen wir uns das heraus, was uns jetzt interessiert. Und wir erhalten von anderen Personen Informationen übersandt, die wir konsumieren oder weiterleiten. Also wechseln wir auch gerne einmal zu anderen Anbietern. Die Angebote wie Produkte werden von uns zerlegt. Wir picken das heraus, was uns - gerade jetzt - mal interessiert. Der Produzent muss zusehen, ob und wie er zu Einnahmen kommt, um die vielleicht zukünftig dann geschätzten Angebote produzieren zu können. 

Medien wie Journalismus sind ähnlich wie gesellschaftliche Infrastrukturen: Nur auf eine gewisse Dauer angelegt können sie ihre vielfältigen Leistungen für viele erbringen. Aber sind wir uns dessen bewusst? 

Klare Auswahlregeln

Dass wir heute nur nach dem suchen und nur das haben wollen, was uns wirklich nutzt, ist ja nicht falsch: Wir leben in einer individualisierten Gesellschaft. Wir haben uns von Obrigkeiten wie moralischen und pädagogischen Vorgaben immer mehr befreit. Wir leben so, wie wir es wollen. So wollen wir immer dann einkaufen, konsumieren oder Information beziehen, wann und wo es uns passt. Ladenöffnungszeiten, Redaktionsschluss, feste Sendeplätze - das entspricht nicht mehr unseren Erwartungen. 

Feste Zeiten, klare Auswahlregeln aber kennen die Massenmedien noch. In Krisenzeiten wissen wir diese Berechenbarkeit durchaus zu schätzen, sonst aber wollen wir das nicht mehr. Wir wollen individuelle Freiheit, wir sehen in den Medien Dienstleister und erwarten Flexibilität. Flexibilität gehört zum mobilen Leben der Individuen: Wenn man mal spontan reisen will, dann muss man daran denken, das Abo rechtzeitig zu unterbrechen. Das ist ein Aufwand, den möchte man meiden. Also verzichtet man auf ein Abo. 

Die Individualisierung wirkt sich nun nicht nur auf unseren Lebensstil wie unsere Erwartungen aus, sondern ebenso auf unser tägliches Informationsverhalten: Wir sind, wir wurden User. An jedem Ort, beim Spazierengehen, im Wald, sogar im Bett glauben wir, nutzen zu müssen. Fairerweise muss man sagen, dass uns erst die Medienhäuser zu Usern erzogen haben: ständig Neues auf der Website, rasche Aktualisierungen, Flashinfos, immer Hinweise auf das, was gerade von den anderen am meisten genutzt wurde. Das muss ich auch tun.

News - schnell, rasch, alles zum Sofortverzehr. Und möglichst rasch vergessen. Denn kaum ist es da, wird es von einem anderen Anbieter bereits verändert mitgeteilt. Man kann hin wie her wechseln, von App zu App gehen, um dabei zu sein. 

Wobei aber ist man dann dabei? Deshalb: Bezahlen für News? Das macht ja nun wirklich keinen Sinn, denn es gibt ja weder Sicheres oder Definitives. Nachrichten sind etwas anderes - nach denen könnte man sich richten. Da lohnt sich der Aufwand an Beschaffung, Lektüre und das Nachdenken über die Aussagen. 

Individualisierung hat viele Folgen. Zunächst fragen wir jetzt nach unserem eigenen Nutzen: Was bringst du mir? Und dann resultiert daraus die Folge, dass wir uns mit immer mehr Personen abstimmen müssen. Wir müssen wissen, was die anderen tun, getan haben oder vielleicht tun wollen: SMS, Mail, News, Groups - wir müssen alles immer wieder machen, scannen. Stets müssen wir online sein. 

Relevante Informationen

Der Koordinationsaufwand steigt - geschäftlich wie privat. Unsere räumliche wie soziale Mobilität will organisiert sein. Die steigende Komplexität muss bewältigt werden. Dazu sind immer mehr Entscheidungen zu treffen. Das erfordert nicht nur ein höheres Volumen an Informationen, sondern ebenso neue Informationsqualitäten. Wir benötigen für unsere beruflichen wie privaten Entscheidungen spezialisierte, vertiefte Informationen. Und die benötigen wir nicht zufällig mal oder irgendwann, sondern dann, wenn es wichtige Entscheidungen zu treffen gibt. Wenn es um Fragen der Vorsorge, um die Gesundheit, die Ernährung, um Unterstützungshilfen für die Kinder in der Schule oder um die Evaluation von möglichen Hilfsangeboten für die ergrauten Eltern geht: Dann suchen wir nach relevanten Informationen. Finden wir die in den Massenmedien?

Wir benötigen immer mehr und qualitativ hochstehende Informationen, weil alle gesellschaftlichen Teilbereiche komplexer geworden sind. Ohne Fachinformationen, ohne vertiefendes Wissen, ohne Vergleiche wie Bewertungen geht es nicht mehr. Werden uns derartige Angebote von den Massenmedien und vom Journalismus gemacht? Ja, aber immer nur zum Teil, selten in der nötigen Spezialisierung wie Vertiefung und zumeist nie zu dem Zeitpunkt, wo wir diese benötigen. 

Massenmedien und Journalismus produzieren für viele vieles, sie produzieren seriell, sie können auf Gruppen- wie Individualbedürfnisse wie situative Anforderungen nicht eingehen. Massenmedien agieren nach der industriellen Logik, Journalisten wählen nach dem Prinzip des allgemeinen Interesses aus. Und die Auswahl ist deshalb im hohen Maß auf die Politik und damit auf die allgemein verbindlichen und weniger auf die individuellen - die privaten - Entscheidungen, orientiert. Politische Entscheidungen können wichtig sein, aber für viele individuelle Entscheidungen sind sie allenfalls nachrangig relevant. Die Politik spürt das und ist in Sorge, dass sie aufgrund der Krise von Medien wie Journalismus mit an Bedeutung einbüßt. Dem ist wohl so.   

Die Probleme von Medien wie Journalismus haben eine weitere, tiefe Ursache: Leben wir noch im Industriezeitalter? Wohl nicht mehr. Auf alle Fälle ist unser Leitbild, sind unsere Lebensbilder längst nachindustriell. So wird von Wissens-, Informations- oder Dienstleistungsgesellschaft gesprochen. Doch dazu gehören Massenmärkte, Massenkonsum, Massenprodukte - und eben auch die Massenmedien nicht mehr so recht. Wir wollen uns unterscheiden und wir wollen persönlich - zumindest personalisiert - angesprochen und mitgenommen werden. Zumindest das Gefühl dafür möchten wir haben. 

Dienstleistungsgesellschaft trifft das vorherrschende Lebensgefühl wohl am besten: Sonst hätten wir ja nicht so viel vom Homeoffice lesen können, in dem wir alle waren oder sind. Zwar gibt es noch immer viele Sektoren wie Menschen ohne diesen sicheren Ort, das Homeoffice, aber das übersehen wir gerade wieder einmal. Die Spannungen zwischen Stadt und Land sowie zwischen sozialen Gruppen in der Corona-Krise erklärt das. 

Vorsorgeleistungen

Dienstleistungsgesellschaft: Mehrheitlich erwarten wir überall Dienstleistungen, doch Massenmedien und mit ihnen der Journalismus haben dort keine Stärken. Kollektive Beratung über Medien, das ja vielleicht, aber mehr nicht. Aber ist das nicht alles sehr stark ex cathedra? Zu viel Verkündung, zu viel Selbstgewissheit? Und zu wenig Lebensweltnähe, Austausch und Beratung? Also müssen wir uns nach anderen Informations- und Kommunikationsdienstleistern umschauen. Social-Media-Plattformen leisten das, weil sie Gruppen um Probleme wie Themen konstituieren, weil man so gemeinsam Wissen teilen, weil man kollaborativ agieren und weil man - ohne Gesichtsverlust - nachfragen kann. 

Medien und Journalismus haben in der stark individualisierten Dienstleistungsgesellschaft ihre besondere Stellung verloren. Und da der Journalismus aufgrund seiner Produktions- wie Distributionsformen nicht smart sein kann, erscheinen Journalisten wie Informationsarbeiter auf entlegenen Feldern.

Ja dort, auf entlegenen Feldern, ist der Journalismus nach wie vor zu Hause. Ebenso wie die Bergbauernfamilien, die in schwer zugänglichen Vegetationszonen an den Hängen agieren und dort für Landschaftspflege und damit für Sicherheit am Berg sorgen, beackert der Journalismus systematisch seine Felder: Politik, Wirtschaft, Medizin. Beide Akteure tragen anhaltend Sorge um ihre Felder, sorgen professionell für uns mit vor. Beide Akteure aber sehen wir nicht oder nur selten bei ihren Tätigkeiten. Und wir verstehen nicht sehr viel von dem, was sie da tun. Sie leisten, jeder für sich, eine Form von Pflege wie Vorsorge. Was sind uns diese Tätigkeiten wert? 

Der Journalismus beobachtet beispielsweise Regionen, etwa Länder in Afrika. So wissen wir, dass es in bestimmten Zonen Heuschreckenschwärme gibt, die massive Auswirkungen auf die dortige Landwirtschaft und somit auf die Ernährung der Menschen haben könnten. Was mögen die Folgen sein für die Menschen dort - und vielleicht dann auch für uns? Korrespondentinnen und Korrespondenten könnten darüber berichten, wenn entsprechende Stellen vorhanden sind. Journalistinnen wie Journalisten nehmen, vielfach als einzige Person, an öffentlichen Sitzungen teil. Sie üben damit, stellvertretend für uns, durch ihre reine Präsenz eine Kontrollfunktion aus. Bei vielen Gerichtsverhandlungen stellen allein Journalisten die Öffentlichkeit her. Und vielfach kommt dabei nichts Sichtbares heraus, etwa weil über eine Verhandlung kein Bericht erscheint. 

Gemeinschaft und Gesellschaft

Journalismus hat vielfältige Effekte, sichtbare wie nicht sogleich sichtbare. So prägt der Journalismus unsere demokratischen Institutionen. Und Journalismus hat Impact. Journalismus wirkt auf unsere Kultur, unser Miteinander ein: Er berichtet über Normen und Regeln, über Verstöße dagegen und ermöglicht uns damit, Entscheidungen über neue Normen und Regeln zu treffen. Wir sehen erst in der Berichterstattung die Normen- wie Regelkonflikte in unserer Gesellschaft und nur deshalb können wir unsere eigenen Entscheidungen im Wissen um die Dinge treffen. Und nur so können wir zugleich als Gesellschaftsmitglieder mit dafür sorgen, dass gemeinsam geteilte Normen und Regeln entstehen.

Social Media ermöglichen uns Individualität und das Zusammensein in Gruppen. Das ist schön und wichtig. Und Medien und Journalismus machen aus uns Gemeinschaft und Gesellschaft. Wir brauchen beides. Ohne Journalismus verlören wir Zusammenhalt und Gemeinschaft. Vor allem aber verlieren wir die Fremdbeobachtung wie die Kritik an Verhältnissen - so auch an unserem Medien- und Kommunikationsverhalten. Wir sind existenziell auf die Vorsorgeleistungen von Medien wie Journalismus angewiesen. Das hat nicht nur die Corona-Pandemie gezeigt. 

Wir müssen, bei aller berechtigten Kritik an Medien wie Journalismus, die infrastrukturelle Bedeutung von publizistischen Medien wie Journalismus sehen, anerkennen und öffentlich herausstreichen. Unter den massiv gewandelten Marktbedingungen - Anbieter, Angebote, Nutzungsverhalten - bedarf es einer Debatte über die Relevanz von Medien wie Journalismus wie zur Zukunft der Sicherstellung einer publizistischen Leistungserbringung. Wie kann diese sicher, dauerhaft und in hoher Qualität erbracht werden? Diese Debatte mögen Medien wie Journalismus nicht führen, sie agieren ungern in eigener Sache. Das ehrt sie. Deshalb bedarf es dazu spezifischer Formen wie Formate, so zivilgesellschaftlicher Provenienz. Hier sind vor allem Wissenschaft und Kultur gefordert.  

Brancheninterner Dialog 

Zudem bedarf es aufgrund der sich verschärfenden Marktsituation neuer Überlegungen für Formen der Kooperation. Natürlich bedarf es des Ideenwettbewerbs, der offenen und kritischen Debatten, unterschiedlicher Stimmen. Doch es stellt sich aufgrund des technischen Wandels die Frage, ob der Wettbewerb nicht unter neuen Bedingungen ermöglicht werden sollte. Jeder Verlag mit eigener Druckerei, eigenem Web-Auftritt, eigenem technischen Vertriebskonzept etc. - nutzt das den Nutzerinnen? Eine Vielzahl von Landesrundfunkanstalten mit vielen Programmen, aber vielleicht deshalb überall sinkenden Nutzungszahlen? Das Privatfernsehen wie der öffentliche Rundfunk werden von den Streaming-Plattformen bedrängt. Wie kann der Zugang zu den publizistischen Angeboten insgesamt sichergestellt werden? Der brancheninterne Dialog ist überfällig. 

Allein der bisherige Wandel hat markante Spuren bei Medien und Journalismus hinterlassen. Der Verlust an Vielfalt ist offensichtlich. Und dabei geht es eben nicht allein um Segmente, wie beispielsweise den Wissenschaftsjournalismus. Die Debatte über neue Wege in der Medienpolitik, neue Formen von Konkurrenz wie Kooperation, sollte rasch beginnen. Auch da gilt es, politische wie rechtliche Kompetenzgräben zu überspringen: Nur im Zusammenwirken von Ländern, dem Bund und den immer relevanter werdenden europäischen Institutionen wird man weiterkommen können. 

Der "Digital Services Act" kann nicht das letzte Wort der Europäischen Kommission sein. Die Chancen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gilt es zudem zu nutzen. In Deutschland ist das Bewusstsein für die Gestaltung der Plattformwirtschaft ausgeprägt vorhanden und das Land hat das nötige ökonomische, politische wie auch kulturelle Gewicht für neue Impulse. 

Aus epd medien 27/20 vom 3. Juli 2020