Das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Zeiten von Corona / Von Otfried Jarren

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat seine Rolle in den Zeiten von Corona und dem anhaltenden Medien- wie Gesellschaftswandel noch nicht gefunden, meint der Medienwissenschaftler Otfried Jarren. Er kritisiert, dass vor allem das öffentlich-rechtliche Fernsehen seit Wochen die immer gleichen Experten und Politiker auftreten lässt und diese als Krisenmanager inszeniert. Den Journalisten wirft er vor, dass sie sich als Teil des Systems sehen und zu wenig hinterfragen, was entschieden wird. Im Fernsehen würden auch Medienerzählungen verbreitet und wiederholt, die nicht mit Bildern zu belegen seien. Jarren war bis Ende 2018 Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich und ist Präsident der Eidgenössischen Medienkommission (EMEK) in der Schweiz.  

Die Medienfreiheit ist in der derzeitigen Pandemiesituation zum Thema geworden - weil und solange die Exekutive herrscht. Eine Kommission des Europarats weist aktuell auf diese Problematik für die demokratischen Staaten deutlich hin (http://u.epd.de/1gvf). Die Exekutive dominiert in Zeiten der Pandemie. Diese Dominanz einer einzigen Gewalt des demokratischen Staates ist in Ausnahmezeiten wohl unvermeidlich. Das erfordert von den Medien und vom Journalismus ein Höchstmaß an Achtsamkeit, Vorsicht, Zurückhaltung - und Distanz. Es geht unter Ausnahmebedingungen einerseits um die Gewährleistung der Presse- und Medienfreiheit, worauf der Europarat hinweist. Andererseits müssen Medien und Journalismus nun besondere Qualitäten zeigen, um jetzt wie in Zukunft als zuverlässig, unabhängig und relevant gelten zu können. Erst am Ende der Pandemiezeit wird Bilanz gezogen. 

Die unklare, offene Situation erfordert Weitsicht: Mehr denn je geht es um Analyse, Kritik und Kontrolle. Es geht um Aufklärung, um die Prüfung von behaupteten Sachverhalten, Annahmen, Prämissen wie die eigenständige Abschätzung der Folgen politischer Maßnahmen. Exekutiv- und Expertenvoten bedürfen der intensiven Prüfung und Diskussion. Je enger, je geschlossener der Exekutiv-Experten-Kreis wird, und je einschneidender wie folgenreicher ihre Entscheidungen sind, desto mehr bedarf es des Einbezugs weiterer Expertiseträger, des Einholens von Zweit- und Drittmeinungen. 

Journalismus muss aufbrechen

Derzeit ist der in den Medien auftretende Kreis der Experten arg klein. Das ist erklärlich, gilt es doch rasch zu handeln, Expertise aufzubauen, dann aber den Kreis rasch und systematisch zu erweitern. Handlungssysteme jeglicher Art aber neigen zur Schließung, folglich zur Ignoranz, sie werden lernunfähig - und die Akteure lernunwillig. Und da Systeme kein Autokorrekturprogramm kennen, müssen die Signale, die nötigen Irritationen von Außen kommen. Von Außen, dort sind Medien und der Journalismus verortet. Der Journalismus muss aufbrechen - und nicht neue (Fernseh-)Stars aufbauen.  

Medien wie Journalismus dürfen nicht Teil eines Exekutiv-Experten-Systems sein oder werden, sondern sie haben funktional wie normativ eigenständig zu operieren. Diese Eigenständigkeit ist im Interesse der Gesellschaft, auch der handelnden Akteure. Die eigenständige Position der Medien gilt es stets zu verdeutlichen. So ist das Auftretenlassen von Regierenden und Expertiseträgern in den Sendungen nicht ein, Nein: es ist das Thema für die Medien. Hier hat insbesondere der Fernsehjournalismus zu gestalten. Der Fernsehjournalismus entwickelt die Formate. Er bestimmt die Formen der Vermittlung. Er legt die Spielregeln fest. Er benötigt dafür Zeit, aber vor allem Ressourcen. Ressourcen, um zum Beispiel vor Ort recherchieren zu können. 

Der Journalismus darf in dieser Zeit nicht im Homeoffice verschwinden. Der Journalismus sollte in der Gesellschaft sein, Präsenz zeigen, Öffentlichkeit sichtbar herstellen. Das zumal in einer Situation, in der die Gesellschaft von der Exekutive in ihrer Freizügigkeit beschränkt wird. Mit Gesellschaft sind jene Akteure gemeint, die zivilgesellschaftlich unterwegs sind und der öffentlichen Sache dienen. Diese gesellschaftlich eher kleinen Gruppen erscheinen plötzlich groß, weil Behörden Gruppengrößen definieren. Die Einschränkung auf Gruppengrößen mag medizinisch berechtigt sein, sie ist aber demokratiepolitisch ein Problem - zumal dann, wenn rein schematisch vorgegangen wird. Damit werden Formen der mitlaufenden, der beiläufigen zivilgesellschaftlichen Mit-Kontrolle in der Gesellschaft verunmöglicht. Auch deshalb muss der Journalismus Vor-Ort-Präsenz zeigen.   

Auf den Journalismus kommt es in besonderer Weise an - zumal dann, wenn die Parlamente einstweilen nicht oder nur in Teilbesetzung tagen. Was parlamentarisch allein an einem Tag beschlossen wird, auf Antrag der Exekutive, das ist erheblich. Zeit für Beratung und Debatte fehlt. Sind sich die Medien, ist sich der Journalismus, seiner zentralen Position in dieser außergewöhnlichen Lage bewusst? 

Der öffentliche Rundfunk mag nun - wie andere Massenmedien auch - seine Fernsehreichweite steigern, aber das ist nur ein Teil der nötigen Gesellschaftspräsenz. Natürlich darf man sich über höhere Reichweiten freuen, doch sollte man sich nicht feiern oder gar sich selbst für systemrelevant erklären, gar preisen lassen. Denn welchem "System" dient man?  

Die Diskussion über exekutive Entscheidungen, über getroffene Maßnahmen und deren Folgen, wird kommen. Sie kommt, weil es sich bei der Pandemie um einen natürlichen Vorgang handelt. Das Virus muss sich verbreiten können, es muss in das menschliche Immunsystem integriert werden. Das ist ein natürlicher und unausweichlicher Vorgang. Der kann nicht rechtlich, politisch und nicht einmal militärisch beeinflusst werden. Es kann allenfalls der Prozessverlauf verlangsamt werden. Der Versuch, diesen Verlauf zu steuern, hat erwartbar vielfältige kulturelle, soziale wie ökonomische Auswirkungen. 

Die beschlossenen politischen Maßnahmen haben, über die Dauer jeder Pandemie hinaus, große Nebenwirkungen. Diese Nebenwirkungen können eigenständige Krisen auslösen. Diese Krisen aber sind durch menschliche Entscheidungen verursacht. Wenn nun zukünftig von "Krise" gesprochen wird, so wird das Virus - auf natürliche Weise - verschwunden sein. Es wird sicher in den Debatten erwähnt bleiben. Doch es geht dann vor allem um die von Exekutiv- und Expertengremien getroffenen oder unterlassenen Entscheidungen. 

Verweise auf andere

Corona stößt menschliches Entscheidungsverhalten jetzt an, um dann selbst zu verschwinden. Das Virus durchläuft die Gesamtgesellschaft und kommt irgendwann an seine Grenzen, wenn es in den menschlichen Immunsystemen integriert ist. Aber selbst dann kann es immer wieder neue Wellen geben. Ein Ende jetzt ist nicht benennbar, nicht in Sicht. Wie lange soll der politisch definierte Corona-Krisenstatus gelten? Kommen wir gar in einen Dauerkrisenmodus - ohne Endzeitpunkt? 

Wahlen aber werden stattfinden (müssen), es sei denn, man verschiebt diese. Die Exekutive weiß um ihre begrenzten Möglichkeiten. Sie deutet dies derzeit aber nur an, weil sie nicht verunsichernd wirken will. Deshalb arbeitet die Exekutive kommunikativ gerne mit Verweisen auf andere: andere Länder, Experten, erwartbare Impfstoffe, erhoffte Therapien, auf den Faktor Zeit. Es wird auf die Zukunft verwiesen, doch wir wissen es: Alle Zukunft ist ungewiss, dass ist sogar ihr Sinn (Niklas Luhmann). So kann weder die Frage nach dem Ende der Pandemie noch nach einem Endpunkt des etablierten Krisenregimes beantwortet werden. Deshalb gelten zwei Devisen: Zuwarten und mal schauen, was andere so tun. 

Das Zuwarten erscheint plausibel. Aber die Verweiskommunikation ist nicht belastbar. Derzeit sind es die Chinesen: die scheinen das Virus erfolgreich bewältigt zu haben. Stimmt das? Ist in China nun das Virus schon hinreichend verbreitet und in den menschlichen Immunsystemen integriert? Das wissen wir nicht. Auch bei den politischen Maßnahmen wird verwiesen, auf andere geschaut, einer bietet mehr als der andere. Motto: Wenn alle das gleiche tun, so fühlt man sich sicherer. Wir haben ja nur das gemacht, was die Chinesen, die Italiener, die Spanier getan haben. Diese Referenzen gelten aber nur für den jeweils aktuellen Zeitpunkt. Was da noch kommt oder geschieht, so in den USA oder anderen Ländern, das ist offen. 

Das Problem der Offenheit bleibt, über Wochen oder Monate, wie die Unbestimmtheit in der politischen Kommunikation. Damit wird immer deutlicher werden: Politisch kommt man einem Virus nicht bei. Für ihn gelten nicht Recht und Gesetz, er ist nicht käuflich oder einfangbar. Und dann stellen sich Fragen, ob und wie die Nebenwirkungen aufgrund politischer Entscheidungen bewältigt werden. Das wird zum politischen Systemstresstest.  

Das Fernsehen macht die Krisenmanager 

Nicht das Virus, politische Versprechungen werden dann zur Herausforderung für die Exekutive. Und sie werden vor allem dann zu einem Problem für das gesamte politische System, wenn kommunikativ nicht stufengerecht agiert wurde. So ist beobachtbar, dass nicht zwischen fachlichen, verwaltungstechnischen und politischen Aussagen differenziert wird. Alles wird sofort und sogleich zur Chefsache erklärt oder gemacht. Für ihre Ernennung zum Krisenmanager sind die Akteure natürlich nicht verantwortlich zu machen. Das Fernsehen macht dann die Krisenmanager, jeden Abend aufs Neue. Der Fernsehjournalismus dringt sichtlich darauf, fordert Führung wie Klarheit ein, bewertet die Performance. 

Dieser Journalismus schraubt die Lösungserwartungen hoch, stachelt zum kommunikativen Wettbewerb an. Ja, einige versteigen sich sogar zu der Frage, ob nicht Herr Minister X der bessere Kandidat für ein Amt in einer Partei sei als Herr Y. Das alles aber hat mit der Pandemie nichts zu tun.  

Dass die Pandemie sogleich vom politischen Spitzenpersonal in Beschlag genommen wurde, ist ein Problem, aber die Gründe für das Handeln der jeweiligen Exekutivakteure sind nachvollziehbar: In Italien, in Spanien, in Frankreich wie in Deutschland sind die politischen Mehrheits- und somit Regierungsverhältnisse unsicher, teilweise sind die Regierungen schwach abgestützt. Auch deshalb wird auf die Karte Krise gesetzt, Entschlossenheit im Kampf gegen den Feind inszeniert, um Wahlen zu gewinnen. Die Pandemie wird sogar zum Krieg stilisiert oder als Kampf bezeichnet, es wird Rettung versprochen, so mit der großen Geldkanone. Vor allem sollen andere Regeln gelten. Es geht um Deutungsmacht, Führungsanspruch, um die zukünftigen Machtpositionen. Wir werden sehen, was der in jeder Hinsicht äußerst wendige US-Präsident noch für Maßnahmen im Köcher hat - er will ja Präsident bleiben. 

In diesem Referenzraum an Ländern, in diesem Kontext an Konstellationen und Akteuren bewegt sich die aktuelle Krisenberichterstattung, vor allem die des Fernsehens, ohne dies zu reflektieren. Das Fernsehen, von Enzensberger einmal als "Nullmedium" bezeichnet, kennt bekanntlich weder Vergangenheit - und, wie wir alle auch - nicht die Zukunft. Alles ist deshalb jetzt, nun, sofort, wir unterbrechen. Ständige Sondersendungen - ab jetzt für Monate? 

Journalisten als Experten 

Das Fernsehen als eilfertiges, omnipräsentes öffentliches "Systemmedium": Ohne sichere Kenntnisse über das, was in China wirklich Sache ist (auch weil wir keiner Quelle in diesem Staat vertrauen können und dürfen) und unter Verbreitung der immer gleichen Bilder. So derzeit: Bergamo, aber auch die Bilder aus China. Dies zumeist ohne Quellen- wie Datumsangabe. Wiederholungen, immer wieder Wiederholungen unter Bezug auf die immer gleichen Expertinnen und Experten. So wird munter "Systemjournalismus" betrieben: Exekutive, Experten und Journalistenkollegen als Eigenexperten unter sich. Referenz des Journalismus: China, einige asiatische Beispiele, und Italien, ein wenig auch Spanien. 

Gelegentliche Verweise auf andere Länder, doch: Vertiefungen? Andere Referenzen, andere Pandemien, andere Krisen? - Fehlanzeige. Auch die Exekutive wie die Experten verweisen dann in den Sendungen immer wieder auf die gleichen Beispiele. Die Erzählenden und die Erzählungen gleichen sich so immer mehr an. 

Erzeugt wird - durch eifrige Kollaboration - ein geschlossenes Kommunikationssystem. Störungen und Störer werden rasch identifiziert und benannt: Die sitzen alle im Netz. Vor denen und dem Netz allgemein wird gewarnt, in großer Eintracht. Journalisten, die Experten und die Vertreter der Exekutive, Seit an Seit: Der gemeinsame Kommunikationsfeind wird benannt. Natürlich gibt es problematische Dinge im Netz, aber eben nicht nur dort. 

Auffällig: Die öffentlichen Medien stützen sich nicht nur immer auf die gleichen wissenschaftlichen Expertinnen und Experten, sondern auch die Exekutive argumentiert mit Experten und stützt sich auf diesen Kreis. Schlimmer noch, sie begründet das, was sie unterlässt wie tut, mit wissenschaftlichen Positionen. Der Bezug auf wissenschaftliche Expertise ist so richtig wie begründet, aber vor dem Hintergrund der Tiefe der Maßnahmen bedarf es hier deutlich mehr Transparenz. Dafür sollten die Medien sorgen. Selbst Dienststellen der Exekutive, so die besagten Bundesinstitute, kommen im Eifer des Gefechts in den Medien als unabhängige wissenschaftliche Expertiseträger vor. 

Besondere Form der Hofberichterstattung 

Der Journalismus des Fernsehens betreibt fast tagtäglich das gleiche Spiel, sogleich nach den Nachrichtensendungen wird munter nach dem immer gleichen Schema weitergesendet: Statements, aber keine Debatte zwischen Expertinnen und Experten. Und politische Statements kommen dazu. Es kommen immer die gleichen - zumeist sogar die identischen - Rollenträger vor. Vielfach aus der gleichen Institution. Hier fällt der NDR mit einer besonderen Form der Hofberichterstattung auf. Das alles findet unter Einbezug von Fachjournalisten statt - nur zu gerne aus dem gleichen Haus - ab und an mit der nötigen (geliehenen) Amtsautorität (Foto des Bundesverfassungsgerichts im Hintergrund) versehen. 

Was erzählt uns das Fernsehen? Diese Narrative werden anscheinend in Redaktionen nicht validiert. Andere Formate, zumal Informationsformate: Fehlanzeige. Das Thema wird aus dem Verantwortungsbereich "Aktuelles" am Abend wie zum Sonntag sodann an diejenigen weitergereicht, die seit Jahr und Tag Talkshows machen dürfen: Diese Redaktionen, selbst ohne Eigenkompetenz ziehen dann dort wieder die bei, die man sonst schon als Expertiseträger sah. Beim deutschen öffentlichen Fernsehen kommt noch hinzu, dass immer auf den Parteienproporz geachtet werden muss und wird: Kompetenzproporz scheint nicht vorgesehen zu sein. Natürlich gibt es ab und an "Betroffene" oder Fragemöglichkeiten. 

Im Ergebnis: Die Chefredaktionen haben abgedankt. Die für Talksendungen und Unterhaltung zuständigen Personen haben eine einfache Programmplanung: Corona. In möglichst vielen Sendungen, zu allen Zeiten, mit allen Moderatorinnen und Moderatoren die man aufzubieten hat. Die Inszenierung von Bedrohung und exekutiver Macht dominiert. Die Verantwortlichen sehen sich sicher nicht ihr Gesamtprogramm an - dann würden es ihnen auffallen. Sie könnten dann sehen, was so alles fehlt zwischen "Information" und "Talk" im Programm. Es fehlen alle Unterscheidungen, die zu treffen und nach den zu fragen wäre: Wer hat welche Expertise? Wer tritt in welcher Rolle auf? Was soll in welchem Format wem vermittelt werden? 

Medienerzählungen

Andere Unterscheidungen wären noch wichtiger: Wo haben wir es mit Verwaltungshandeln zu tun und wo mit politischem Handeln? Zwischen Verwaltung und Politik gibt es einen erheblichen Unterschied, auch was die Kommunikation angeht (Bindung an das Recht). Was schon in Talkshow ignoriert wird, nämlich die demokratischen wie institutionellen Unterschiede deutlich werden zu lassen, wird jetzt in den Sonderformaten völlig unkenntlich: Gewaltenteilung und Kompetenzfragen werden unsichtbar gemacht. Die Verwischungen und Verquickungen, die berechtigterweise vom Journalismus beim Amtsinhaber Trump kritisch diskutiert werden, so wenn er via Twitter alle möglichen Dinge verbreitet, betreibt nun ein Teil des hiesigen Journalismus.  

Eher amüsant, wenn es nicht so ärgerlich wäre, sind die bösen bis gehässigen Aussagen über jene, denen man ein "Corona-Partyleben" unterstellt: Bei diesem Wort kommen meist bildlich junge Leute vor, die doch - tatsächlich - in Parks oder an Flüssen sitzen, lesen, diskutieren oder gar ein Notebook nutzen. Man muss befürchten, dass es sich um Schüler und Studierende handelt, die so was tun. Die Partys gehören zwar zu der Medienerzählung dazu, aber es fehlen dem Fernsehen die Bilder. So wartet man bislang auf die Corona-Party-Filme, damit man das Schlimme mal sehen kann, auf das sich Journalisten wie Politiker immer wieder beziehen. 

Vereinzelt zeigt man schon mal Bilder, so aus Tirol. Vom Starkbierfest in Bayern oder vom Treiben in Heinsberg sieht man hingegen nichts. Dabei sind das ja die herumgereichten Hotspots mit den vielen Erkrankungen. Aber diese Handlungsorte bleiben unsichtbar. Es gibt keine Bilder, eben nur aus einem Tiroler Fundus. Vielleicht Szenen aus einem Werbefilm der Tourismusindustrie? 

Aus Not heraus, weil sich ja dann tagtäglich doch wenig tut, muss sich die ARD sogar selbst inszenieren: Die ARD schaffte es am vergangenen Freitag, eine im Homeoffice befindliche NDR-Journalistin über ihren Homeoffice-Alltag berichten zu lassen. Da kam alles Gute vor: ein schönes Wohnquartier, ein Kind, ein Hund. War das die Botschaft? 

Kompetenzen bündeln 

Es gibt aber nicht nur Inszenierungs-Dilemmata: Wenn nun an jedem Tag festgestellt wird, dass in einem Bundesland die Gruppengröße bei drei, aber in einem anderen Bundesland bei fünf Personen liegt: Da muss man die Ministerpräsidenten auftreten lassen. Die müssen diese Unterschiede begründen. Und dann wird von Journalisten politisch gemahnt: bitte alles schneller, bitte alles einheitlicher. 

Ja, der Journalismus in den öffentlich-rechtlichen Landesrundfunkanstalten will den Zentralstaat. Das kann hilfreich sein, das kann zu einem Erfolgsrezept werden, so auch für die ARD: In einer Anstalt könnten die Kompetenzen in einer Redaktion gebündelt werden. Die erste Berichterstattungsphase im Fernsehen zum Corona-Virus zeigt: Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat seine Rolle noch nicht gefunden. Es ist wie bei allen überraschend auftretenden Ereignissen: Es bedarf des Kompetenzaufbaus und der Reflexion. Aber im Wissen um diese Entwicklung sollte man sich nicht als "systemrelevant" titulieren lassen - geschweige denn sich selbst so bezeichnen. 

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist auch keine "kritische Infrastruktur". Wäre er es, würde er von staatlicher Seite eingehegt und bewacht werden müssen. Der öffentliche Rundfunk ist eine unabhängige gesellschaftliche Institution. Unabhängigkeit und Kompetenz sind entscheidende Faktoren, wenn er nach diesen turbulenten Phasen als relevant erachtet werden möchte. Er hat das Potenzial, dies nun zu zeigen.   

Aus epd medien 13/2020 vom 27. März 2020