Endlich wieder den Wind in den Haaren spüren
Tandemfahrrad
Gerne fährt Klaus Reichert von der ADFC-Ortsgruppe Ostfildern (in orange) Seniorinnen und Senioren mit dem Paralleltandem spazieren.
Dank Paralleltandem geht Radfahren auch mit 99 Jahren
Ostfildern (epd)

Für das Paralleltandem gebe es keine Altersgrenze, sagt dessen Fahrer Klaus Reichert. In Ostfildern bei Stuttgart fährt er damit Seniorinnen und Senioren spazieren, sein bisher ältester Fahrgast zählte 99 Jahre, die älteste Dame immerhin 98. Besonders beliebt ist die vor ein paar Jahren neu gebaute Panoramastrecke mit schönem Blick hinunter ins Neckartal. Manche Fahrgäste aus dem Pflegeheim kommen nur durch das Paralleltandem endlich einmal wieder hinaus an die frische Luft.

Reichert gehört zur Ortsgruppe Ostfildern des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). Die Initialzündung war bei ihm ein Film, in dem das Fahrzeug vorgestellt wurde, dank dessen Senioren endlich wieder «den Wind in den Haaren spüren» können. «Das sollten wir auch bei uns haben», sagte er sich. Die Ortsgruppe hatte allerdings keine 13.000 Euro. Also ging sie, um den Kaufpreis zu finanzieren, im Jahr 2017 auf Sponsorenwerbetour. Acht Unterstützer von der Bürgerstiftung bis zum Bundesumweltministerium waren dabei. Einer der Unterstützer, die Stadt Ostfildern, wünschte sich das Paralleltandem als ein soziales Projekt: Bis heute ist die Mitfahrt kostenlos, 6.700 Kilometer sind auf dem Tacho.

Jedes Jahr um Ostern herum beginnt die Saison, dann nimmt Reichert wieder Seniorinnen und Senioren auf Tour. Manche kommen aus der Tagespflege, freitags sind immer die Bewohner des Samariterstifts Ostfildern an der Reihe. Am Vormittag ist nacheinander Platz für vier Fahrgäste, jede Fahrt dauert eine knappe Dreiviertelstunde. Für die Beine der Mitfahrer gibt es mehrere Optionen: Sie können ebenfalls treten, sie können im Leerlauf ruhen oder sie werden durch die Pedale zwangsbewegt, gemäß dem Motto des Angebots «Bewegung und Begegnungen». Das kann Reichert einstellen. Wenn nötig, werden die Pedale durch eine feste Platte ersetzt. Der Sitz lässt sich um 90 Grad drehen, so können auch Rollstuhlfahrer auf ihm platziert werden, danach wird der Sitz gedreht. Ein Fünf-Punkte-Sicherheitsgurt ist bei Bedarf vorhanden.

Das Paralleltandem stammt von einem niederländischen Hersteller, wiegt 80 Kilogramm und hat einen elektrischen Vorderradantrieb. Ein Ersatzakku ist an Bord. Die besonders guten Sitzpolster sind Eigenarbeit, von einer Nachbarin professionell genäht. Überall erweckt das Fahrzeug Neugier. Besonders mag Reichert die Kommentare von Kindern. Eines sprach vom «Beieinander-Fahrrad», ein anderes wollte, wenn es einmal groß ist, ebenfalls so ein «Moped» haben. Im Wort «beieinander» könnte der Grund liegen, dass das Paralleltandem im Samariterstift weit beliebter ist als die ebenfalls dort vorhandene Rikscha.

Die 6.700 Kilometer hat Reichert nicht alleine geradelt - aber das meiste davon. Für andere Kandidaten für den Fahrdienst gibt es in der Nähe der Radgarage, in Ostfildern-Ruit, auf einem Feldweg zwei enge Pfosten. Reichert nennt sie den «Testengpass». «Wer dort bei drei Versuchen mit dem Paralleltandem nicht durchkommt, bekommt keine Lizenz.» Er selbst fährt mit großem Vergnügen, allerdings nicht bei Regen. Denn der Putzaufwand wäre hinterher weit größer als bei einem normalen Fahrrad.

Knapp 20 Kilometer weiter östlich gibt es im katholischen Seniorenheim St. Lukas in Wernau ebenfalls ein Paralleltandem. Um weitere Beispiele zu finden, muss Reichert nicht einmal so weit weg: «In Altbach und in Deizisau wird nun ebenfalls eine Anschaffung überlegt», sagt er mit Blick auf die nähere Umgebung.

Dann erzählt er noch die Geschichte des Mannes, den er nach einer Herz-OP regelmäßig zur Krankengymnastik fuhr. «Nur nicht anstrengen», hatte ihm der Arzt dringend geraten. Die Mitarbeit auf dem Paralleltandem brachte ihm dann eine ganz sanfte Anstrengung. Bei einer Untersuchung nach sechs Wochen war der Arzt verblüfft. «Eine solche Verbesserung in dieser Zeit, hat er gesagt, habe er bei einem Patienten niemals zuvor erlebt.»

 

Von Peter Dietrich (epd)