Kaum eine Tradition aus Kaisers Zeiten ist noch so lebendig: Der 1883 ins Leben gerufene Deutsche Wandertag, zu dem regelmäßig tausende Wanderfreunde zusammenkommen. Schauplatz des weltweit größten Wandertreffens ist in diesem Jahr vom 19. bis 22. September Heiligenstadt im thüringischen Eichsfeld. Bei einer Tourismus-Fachtagung aus diesem Anlass wird auch der Wandermarkt-Forscher Heinz-Dieter Quack von der Ostfalia-Hochschule in Salzgitter sprechen. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erläutert der Wirtschaftswissenschaftler aktuelle Wandertrends und was für ihn den Reiz des Umherstreifens in der Natur ausmacht.
epd: Herr Professor Quack, warum wandert der Mensch?
Heinz-Dieter Quack: Viele wollen schlicht den Kopf frei kriegen. Tatsächlich ergibt sich durch das stundenlange Gehen bei moderater körperlicher Anspannung eine größtmögliche mentale Entspannung. Dazu trägt bei, dass ich mich im Unterschied zu anderen Outdoor-Sportarten wenig auf den konkreten Bewegungsablauf konzentrieren muss.
Außerdem wollen Wanderer die Natur erleben. Das ist in Befragungen das am häufigsten genannte Motiv. Etwas für die Gesundheit tun, Stille erleben und eine Region kennenlernen: Das sind weitere Motive, die regelmäßig weit vorn stehen. Für einen geringeren Teil spielen auch religiöse Motive eine Rolle: Zehn Prozent der Deutschen sagen, dass sie gelegentlich pilgern.
epd: In der Corona-Zeit haben viele das Wandern für sich entdeckt. Hält der Trend an?
Quack: In den ersten beiden Pandemiejahren gab es einen regelrechten Wander-Hype. Danach ist die Zahl der wandernden Menschen leicht gesunken, hat sich aber auf höherem Niveau als vor Corona stabilisiert. Wir haben dazu im Frühjahr zusammen mit dem Sinus-Institut Heidelberg eine Untersuchung gemacht. Das Ergebnis: 63 Prozent der Deutschen wandern.
epd: Gibt es Unterschiede nach Milieu und Alter?
Quack: Gewandert wird in der gesamten Bevölkerung. Wir haben aber tatsächlich in den sogenannten gehobeneren Milieus eine leicht überdurchschnittliche Wanderneigung. Dazu gehören das konservativ-gehobene und das postmaterielle Milieu, das der Performer und das expeditive Milieu, und natürlich das neoökologische Milieu. Ein bisschen unterdurchschnittlich ist die Wanderneigung im nostalgisch-bürgerlichen und im sogenannten prekären Milieu ausgeprägt. Insgesamt ist der Altersdurchschnitt des deutschen Wanderers in den letzten Jahren leicht gesunken, von 55 auf 52 Jahre. Dennoch gilt: Je älter die Wanderer, desto öfter und intensiver wandern sie.
epd: Wann haben die Deutschen das Wandern für sich entdeckt?
Quack: Erst in der Moderne, davor ist man höchstens gepilgert. Wandergesellen haben ebenfalls lange Wegstrecken zu Fuß zurückgelegt, aber das war beruflich motiviert. Der bewusste Gang ins Freie, um die Natur als etwas Schönes zu entdecken, das ist erst in der Zeit des französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) aufgekommen - von dem bekanntlich die Losung „Zurück zur Natur!“ stammt. Davor haben die Menschen die Natur eher als einen Ort der Gefahr gesehen.
In Deutschland hat das Wandern in der Kaiserzeit (1871-1918) deutlich an Popularität gewonnen. Studenten haben sich zum Wandern verabredet, um revolutionäre Ideen zu diskutieren, ohne Angst, bespitzelt zu werden. Auch das organisierte Wandern in Vereinen war wesentlich verknüpft mit einer freiheitlich-demokratischen Grundorientierung. Das änderte sich, als die Nazis die Wanderbewegung vereinnahmten und nationalsozialistisch überformten.
epd: Welche wirtschaftliche Rolle spielt das Wandern heute?
Quack: Es gibt viele touristische Segmente, in denen die Menschen pro Tag mehr Geld ausgeben, zum Beispiel im Kultur- und im Städtetourismus. Wandertouristen legen aber mehr Wert auf regionale Erzeugnisse. Sie bevorzugen oft eher familiengeführte Unterkünfte und freuen sich, wenn das Essen und das Bier aus der Region kommen. Auch deshalb ist das Wandern, wenn man An- und Abreise ausblendet, eine der nachhaltigeren Formen der Freizeit- und Urlaubsgestaltung. Dazu ist das Wandern, aufgrund der regional differenzierten Wertschöpfungskette, auch im ökonomischen Sinn eine besonders nachhaltige Urlaubsform.
epd: Welche Landschaften werden als besonders schön empfunden?
Quack: Mittelgebirge sind die mit Abstand bevorzugte Landschaftsform der deutschen Wanderer. Die Alpen, einschließlich des hochalpinen Bereichs, sind für viele ein Sehnsuchtsziel, das sie dann aber doch nicht so oft ansteuern. Auch weil es viel größere Ansprüche an die körperliche Fitness stellt. Was die Wege angeht, werden schmale und verschlungene Pfade als besonders attraktiv empfunden - Wege, die mich oft ins Dickicht und wieder herausführen und überraschende Ein- und Ausblicke in die Landschaft bieten.
epd: Wo wandern Sie persönlich am liebsten?
Quack: Im Harz gibt es eine ganze Reihe wundervoller, abgeschiedener Wanderwege abseits der klassischen Routen. Hierfür empfehle ich das Buch „Vergessene Pfade Harz“ von Richard Goedeke. Mit diesem Wanderführer den Harz zu entdecken, ist ein Quell purer Freude. Was mich außerdem immer wieder überrascht, ist der Heidschnuckenweg in der Lüneburger Heide. Dieser Weg zeigt mir die Region aus Blickwinkeln, die verborgen bleiben, wenn man per Pferdewagen, Fahrrad oder Auto unterwegs ist. Auch der Deister ist nach meiner Wahrnehmung eine unterschätzte Wanderregion.