Unter dem Motto „Wir gesucht - Was hält uns zusammen?“ ging es bei der ARD-Themenwoche vom 6. bis 11. November um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Krisenzeiten. Die ARD wollte diesmal bewusst auf lösungsorientierten Journalismus setzen, wie SWR-Intendant Kai Gniffke zuvor angekündigt hatte. Der SWR hatte die Federführung bei dem Projekt. Heike Hupertz hat sich einige Beiträge der Themenwoche angeschaut und angehört.
epd Angezeigt wird ein Verlust. Eigentlich sogar mehr als einer: Solidarität, Mitgefühl, Mitmenschlichkeit, Altruismus, die sogenannten weichen Faktoren, die die Gesellschaft zusammenhalten, sind verschwunden. Manche sagen: seit Corona. Manche freilich, zum Beispiel der verstorbene Prophet Robert Gernhardt, diagnostizierten den Verlust schon viel früher. Dass „keine Sau mehr rühmen“, aber „jedes noch so dumme Schwein berühmt werden“ will, sei ein bedenkliches Zeichen, befand der. In der Tat. Zum Rühmen gehört Generosität. Gönnen können. Sich selbst für einen Moment nicht so wichtig nehmen, das Kritteln lassen. Wer den anderen auf ein Podest hebt, stellt sein eigenes Licht nicht unter den Scheffel, im Gegenteil. Im besten Fall eröffnet sich eine Beziehung in der Anerkennung, ein Gespräch.
Zum Glück gibt es ja noch unser aller Fundbüro für gesellschaftliche Werte, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der ohne Berührungsängste, die Millionen umschlingen will. „Fernsehen für alle“, forderte einst der ZDF-Fernsehfilmchef Hans Janke.
Ein Phantom
„Wir sind deins“ - dieser Slogan der ARD suggeriert, dass es hier ein „Wir“ noch gibt, welches anderswo verloren scheint. Ein Senderverbund, ein „Wir“ mit im Staatsvertrag definierten Auftrag. Tatsächlich scheint man sich in den Anstalten zurzeit viele Gedanken um dieses „Wir“ zu machen. Nötig wäre dafür aber eine intakte „Wir“-Vorstellung oder zumindest genaue Zielvorstellungen.
Das „Wir“ scheint also weg zu sein. Die Gründe sind manchmal klar, manchmal nicht. Manche bestreiten, dass es dieses „Wir“ je so gegeben hat, wie es nun beschworen wird - zumindest in den letzten Jahrzehnten. Wer also dem „Wir“ nachspürt, jagt ein Phantom.
Ob Schimäre oder Wunschvorstellung - selbst die Kritiker der Vorstellung von Schismen in der Gesellschaft dürften unterschreiben, dass die staatlich verfasste Gemeinschaft ein solches „Wir“ benötigt. Ein einziges „Wir“ mag schwer zu finden und außerhalb sehr formaler Grundlage, wie etwa im Kant'schen kategorischen Imperativ, auch gar nicht wünschenswert sein. Es gibt viele „Wir“-Ideen, Zielvorstellungen, von der politischen Aufklärung geborgt, dem deutschen Idealismus abgelauscht, auf eine Leibniz'sche „größtmögliche Vielfalt in der Einheit“ verpflichtet. Eine Gemeinschaft, die sich im Hinblick auf demokratische Freiheit entwickeln will, braucht selbstverpflichtende Bindungskräfte.
Das Zusammendenken von „Wir“ und „Wir sind deins“ ist Legitimationsgrund und Existenzberechtigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Es geht nicht zuletzt um das Gefühl, das Zuschauende, Hörende, Streamende den Programmen entgegenbringen. Wenn daher in diesem Jahr die ARD ihre alljährliche Themenwoche unter das Motto „Wir gesucht - Was hält uns zusammen?“ stellte, hätte das ein Signal sein können: „Wir“ haben verstanden. Ein gutes Motto. Ein Versuch der Positionsbestimmung. Ein Versuch, Wege von der Theorie des Redens über die Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland hin zur Praxis der Zukunft zu finden.
Sieht man sich die bunten Sträuße des Programms der Themenwoche an, das dieses Jahr auf allen Kanälen der ARD ausgespielt wurde, bemerkt man aber schnell die Überfrachtung mit Anspruch. Es gab in diesem Jahr gleich drei fiktionale Fernsehfilme (immer noch die Königsdisziplin des themenorientierten Erzählens), knapp 30 Podcasts zum Thema, die freilich oft wirkten, als würden sie einfach nur das machen, was sie sonst auch machen, Radiosendungen, Dokumentationen, ARD-Mediathek-Produktionen, Programm-Verjüngungsanstrengungen auf Social Media - ein Sammelsurium der Relevanz-Leistungsschau.
Das Öffentlich-Rechtliche als Lagerfeuer der Integration, konkretisiert in vielen kleinen Programm-Feuerchen, geschürt durch praktische Zusammenarbeit der einzelnen Anstalten. Doch es dominierte die Idee des Fundbüros.
Es fand sich eine Menge Sehens- und Hörenswertes, es ließen sich Entdeckungen machen, oft in den kleineren Formaten, in den Dritten oder im Kinderprogramm, wo leidenschaftliche Programmmacher viel zu den Themen Solidarität und „Zusammenhalt üben“ interessant umgesetzt haben. Die Bandbreite reichte von philosophischen und populärwissenschaftlichen Podcasts - hier tat sich Bayern 2 besonders attraktiv hervor -, bis zum fiktionalen Paradestück, dem Mittwochsfilm „Und ihr schaut zu“, den der SWR beisteuerte und der natürlich auch in der Mediathek abrufbar ist.
Als Zugpferde, „Testimonials“ oder Beglaubigungsgaranten fungierten die Paten Mark Forster, der das Themenwochenlied „Memories & Stories“ geschrieben und mit der SWR Big Band aufgenommen hat, die Kabarettistin Idil Baydar und die jugendlichen Star-Influencerinnen Lisa & Lena, die auch als sogenannte Sinnfluencerinnen unterwegs sind.
Leider sah vor allem der Spielfilm „Und ihr schaut zu“ (Kritik in epd 44/22) sehr wie Themenfernsehen von gestern aus, verband Moral mit Kitsch und ließ die Nebenfiguren eine erstaunlich prompte und unglaubwürdige Wandlung durch Einsicht erleben. Erst Not und Tod, dann Friede, Freude, Rücksicht. Wer's glaubt, wird selig.
Mit Schmalznote
Dabei sind die Themen dieses Films sehr wichtig: Gaffer filmen ein sterbendes Unfallopfer und teilen die Videos im Internet. Ein narzisstisch scheinender Spitzenmanager, in Wahrheit ein Burn-out-Opfer aus dem mittleren Management, behindert die Rettungskräfte beim Einsatz, Umstehende sind vom Geschehen fasziniert und untätig, anscheinend hilft niemand der sterbenden Studentin. Am Ende findet die trauernde Mutter des Unfallopfers dann doch jemanden, der der Sterbenden die Hand gehalten hat. Sie musste nur bei der Suche selbst menschlich wachsen, um Frieden und einen Neuanfang zu finden.
Nichts daran ist fasch, aber leider nahm Autorin Dominique Lorenz zu viele Problemlagen, mit denen Menschen im Leben konfrontiert sein können, mit in die Handlung auf. Am Ende erschien die gestorbene junge Frau sogar als Lichtstrahl im Gericht, die Mutter beschwor ihre liebe Seele, und die Tränen waren selbst bei denen kaum zurückzuhalten, die Tagessätze in empfindlicher Höhe aufgebrummt bekamen. Die Versöhnung der zuvor zerstrittenen Eltern der jungen Frau setzte die elegische Schlussnote.
Wenn die Suche nach dem „Wir“ heißt, dem Publikum die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Filmen und Hochladen sowie unterlassene Hilfeleistung mit einer Schmalznote zu präsentieren, dann wirkt das fast herablassend. „Wir“-Qualität bestünde darin, die Zuschauenden und ihre Meinungen etwas subtiler herauszufordern.
Leider gelang dies auch mit dem zweiten Fernsehfilm, „McLenBurger - 100 % Heimat“, einer warmherzig gemeinten Sozialkomödie nicht. Wieder scheinen hier die senderspezifischen Vorbehalte gegenüber den Möglichkeiten der Fiktion einen besseren Film verhindert zu haben. An den Schauspielern liegt es nicht, dass die Landpartie nach Pasewalk, Vorpommern-Greifswald, so dröge wirkt. Dieser Freitagsfilm präsentiert Steffi Kühnert als Burgerrestaurant-Bedienung, die den Armen immer eine Scheibe Bacon extra auf das labbrige Brötchen legt und auch sonst eine Heilige Maria des „unbeugsamen Ostens“ zu sein scheint. Sie und Martin Brambach als ihr langjähriger Ehemann spielen ihre Parts bemerkenswert, aber das hilft dem Sozialkitsch von „McLenBurger“ insgesamt kaum über die Runden.
Eine Klasse für sich war nur der SWR-„Tatort“ aus dem Schwarzwald, „Die Blicke der anderen“, mit dem die Themenwoche zur Eröffnung groß aufspielen konnte. Lisa Hagmeister als von allen zu Unrecht des Mordes an ihrem Mann und ihrem eigenen Sohn Verdächtigte, böswillig verleumdet von Schwiegermutter und Nachbarin als eine, die eben „nicht von hier“ ist, das war großes Kino. Wer Krimi mag, konnte hier eindrücklich sehen, was das „Wir“ eben auch bewirken kann: Das „Schließen der Reihen“ in Gefahrenlagen, die Exklusivität. Dass das „Wir“ immer inkludierend wirkt, ist nur ein Gerücht.
Im Nebel der Plattitüden
Bei all der gebotenen Solidaritäts-und-Sozial-Duselei, all dem Nachdenken, Reportieren und Postulieren wirkte daher der satirisch-kritisch informierende HR-Podcast „Studio Komplex“ mit der Ausgabe „Wir-Gefühl? Weg damit!“ wie eine frische Brise des Kitsch-Wegwehens. Hier wurde nicht bloß klug gegen das „Wir“ polemisiert, mögliche negative Aspekte der „Wir“-Vorstellungen wurden auch mit wissenschaftlich-kritischer Unterstützung unterhaltsam aufbereitet.
Solche Denkanstöße gab es vor allem im Audio: Von „Njette Mädchen“ (Dasding) bis „Abendrot Talk“ (SR1), von „Identität - Eine philosophische Annäherung“ (Radio Wissen, Bayern 2) bis „Wer ist Wir? Und wer nicht? Debatte mit Navid Kermani, Natascha Freundel und Omri Boehm“ bei RBBKultur. Wer das „Wir“ ernsthaft suchte, konnte hier mehr Entdeckungen machen als im Fernsehen. Das Gelaber vom interessanten Gespräch zu scheiden, ist die Aufgabe.
In der ARD-Mediathek dagegen gab es viel vom Üblichen, das zwar nicht überflüssig ist, aber dessen Neuigkeitswert überschaubar ist. Die vierteilige Miniserie „Als Mutti in den Westen ging“ und „Arm trotz Arbeit - Frauen in der Krise“ stehen exemplarisch für die Dritten Programme. Solche Beiträge gibt es auch sonst dutzendfach in der Mediathek.
Lisa & Lena, schon erstaunlich lange Idole der Jüngeren, präsentierten „TickTack - Tu was!“. Auch das ist kein großer Wurf, erfüllt aber die Vorgabe „Verjüngung mit Relevanzanspruch“.
„Studio Komplex“ stellte seinem Beitrag eine effektvolle Klangcollage voran, in der Politiker in Ansprachen das „Wir“ beschwören, was sich im Nebel der Plattitüden aufzulösen scheint. Das verwies auf das Staatstragende, das dieser Themenwoche auch nicht fremd war. Eröffnet wurde sie nämlich von der Sonntagsrede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der am 6. November im „Bericht aus Berlin“ angesichts von Corona-Pandemie, Krieg in der Ukraine, Inflation und Energie-Sorgen über das „Wir“ sprach. Dieser Beitrag setzte den Akzent für die ARD-Themenwoche: Die Lage ist ernst, es geht ums Ganze.
Am Programm wurde wieder einmal deutlich, wie gering die Sender die Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Fiktion und Unterhaltung einschätzen: Das „Wir“ bei gemeinsamer Unterhaltung zu suchen, schien zu unseriös. Dabei wissen alle, die mit „Mensch, ärgere dich nicht!“ aufgewachsen sind oder diejenigen, die in der Schule die neue Form der Bundesjugendspiele erleben, bei denen es kaum noch um Einzelleistungen, sondern um Bewältigung von Gemeinschaftsaufgaben geht, wie die Als-ob-Erfahrung des Spiels, das gesellschaftliche Probehandeln, zusammenschweißt.
Das Fundbüro ARD muss das Rad nicht neu erfinden. Sich ergebnisoffen zukunftsfest zu machen, ist schon schwierig genug. Ein bisher stark unterrepräsentierter Aspekt ist die praktische Zuschauerbeteiligung am Programm, die auch als Forderung nach Interaktivität in der ARD-Mediathek auf dem Aufgabenzettel steht. Hier wären viele Wirs zu finden.
Reden ist ein Anfang, aber zum Handeln bedarf es mehr. Übung in Solidarität durch „glotzende“ Identifikation, das ist spätestens seit Brecht suspekt, eigentlich sogar schon seit der antiken Tragödie. Im Grunde aber geht das Fundbüro ARD immer noch von solchen Zusammenhängen und Zuständen aus. Wir zeigen es euch und ihr lernt daraus. Überlebenswichtiger wäre für die ARD und die öffentlich-rechtlichen Medien insgesamt: Beteilige die Zuschauer, unterschätze sie nicht, moderiere Teilhabe - und setze dein eigenes „Wir“ genau so selbstreflexiv und zukunftsoffen aufs Spiel, wie du es von den Zuschauern einforderst.
Aus epd medien 46/22 vom 18. November 2022