Unabhängigkeit durch Kompetenz
Vorschläge für eine Reform von ARD und ZDF

Die aktuelle Aufregung über mögliche Unregelmäßigkeiten beim RBB und beim NDR hat die seit Jahren laufende Debatte über eine Reform von ARD und ZDF noch einmal befeuert. Nun rücken die Gremien der Sender in den Blick. Karl-Eberhard Hain, Direktor des Instituts für Medienrecht und Kommunikationsrecht an der Universität Köln, und Tabea Rößner (Grüne), Vorsitzende des Digitalausschusses im Deutschen Bundestag, präsentieren hierzu in ihrem gemeinsamen Beitrag eine Fülle von Vorschlägen. So regen sie verpflichtende Vorgaben zur fachlichen Kompetenz der Gremienmitglieder an, die sich auch regelmäßig fortbilden sollten. Mit Blick auf einheitliche Programmstandards oder Compliance-Regeln halten sie eine Verlagerung von Entscheidungsprozessen auf die Ebene der ARD-Gremienvorsitzendenkonferenz für denkbar. Hain und Rößner sind miteinander verheiratet.

epd Seit der Affäre um die abgewählte Intendantin des RBB, Patricia Schlesinger, und unterschiedlichen Vorwürfen gegenüber dem NDR steht der öffentlich-rechtliche Rundfunk unter massivem Beschuss. Das gesamte System befindet sich in einer Krise. Die Vorgänge machen es in der Tat selbst den Befürworterinnen und Befürwortern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, zu denen wir uns zählen, nicht gerade leicht, ihn zu verteidigen.

Bisweilen hört man, wenn es den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht bereits gäbe, müsse man ihn erfinden. Heute gilt vielmehr: Wenn man ihn erhalten will, muss man ihn und muss er sich - partiell - neu erfinden. Freilich hat sich bereits früher gezeigt, dass weder die Anstalten noch die Medienpolitik der Länder allzu innovationsfreudig waren. Dabei hat es an Vorschlägen in den vergangenen Jahren nicht gefehlt.

Es gibt gute Gründe für den Erhalt des Systems. Demokratische Gesellschaften sind auf freie und rationale Meinungsbildung angewiesen. Zu diesem Prozess sollen die öffentlich-rechtlichen Medien durch ihre Verpflichtung auf ausgewogene Vielfalt, durch Verlässlichkeit, hohe journalistische Standards und Unabhängigkeit beitragen. Solche Medien, die einer anderen Rationalität als der des Marktes verpflichtet sind, werden in Zeiten zunehmender Machtkonzentrationen im Internet, von Desinformationskampagnen, Hasskriminalität und Verletzung von Persönlichkeitsrechten eher noch wichtiger.

Die Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist nach wie vor gut, nur entspricht er in der Praxis nicht immer dieser Idee. Idee und Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen, muss das Ziel aller Reformbemühungen sein. Angesichts der aktuellen Vorgänge werden Forderungen nach strukturellen Reformen der Rundfunkanstalten und ihrer Gremien laut. Indes besteht der Reformbedarf schon seit längerer Zeit. So haben die Länder den Sendeanstalten und insbesondere den Rundfunkräten immer mehr Aufgaben zugewiesen. Dies begann bereits 2009, als die Länder im 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag den Gremien unter anderem die Durchführung des Dreistufentests übertrugen. Mit diesem Test wurde und wird der Online-Auftrag der Sender konkretisiert. Es handelt sich um eine sehr aufwendige und fachlich anspruchsvolle Aufgabe. Gegenstand des Dritten Medienänderungsstaatsvertrags ist nun die Reform des öffentlich-rechtlichen Auftrags. Es geht um dessen Flexibilisierung bei gleichzeitiger Schärfung des öffentlich-rechtlichen Profils sowie um eine Vereinheitlichung der anstaltsinternen Kontrolle der Haushaltsführung. Damit kommen weitere anspruchsvolle Aufgaben auf die Gremien zu.

So entscheiden die Rundfunkräte künftig, welche Fernsehprogramme eingestellt oder in Online-Angebote überführt werden sollen. Dazu müssen sie im Vorfeld aufwendige öffentliche Konsultationen durchführen. Darüber hinaus sind sie verantwortlich für die Festsetzung inhaltlicher und formaler Qualitätsstandards für die Angebote sowie standardisierter Prozesse, um diese zu überprüfen. Zur besseren Überprüfbarkeit und Kontrolle der Haushalts- und Wirtschaftsführung müssen die Rundfunkanstalten unter Berücksichtigung von Empfehlungen der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF) gemeinsam Maßstäbe für die Bewertung der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit festsetzen, um einheitliche und möglichst an diejenigen der KEF anschlussfähige Prüfmaßstäbe zu gewinnen. Auch dabei sind die zuständigen Gremien einzubeziehen.

Diese Pflichten, die die Länder den Gremien neu auferlegen, sind ohne fachliche Expertise in programmlicher wie wirtschaftlicher Hinsicht kaum zu bewältigen. Wenn die Länder den Gremien derart komplexe Aufgaben zuweisen, müssen sie allerdings Sorge dafür tragen, dass Verwaltungs- und Rundfunkräte den Anforderungen gerecht werden können. Die Gremien müssen also funktionsgerecht besetzt und ausgestattet werden - auch um ihren klassischen Aufsichtsaufgaben besser genügen zu können. Hier gibt es noch einiges zu tun.

Die Rundfunkräte folgen in ihrer Zusammensetzung weithin dem Prinzip des Binnenpluralismus. Danach sollen zur Gewährleistung inhaltlicher Vielfalt die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in den Rundfunkräten vertreten sein. Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht im ZDF-Urteil die Anzahl der Vertreterinnen und Vertreter des Staates und der Politik begrenzt.

Die Zusammensetzung der Rundfunkräte nach dem Prinzip des Binnenpluralismus folgt nicht fachlichen Kriterien. Dabei sichert fachliche Qualifikation nicht nur die notwendige Sachkompetenz, sondern trägt auch zur Unabhängigkeit der Räte gegenüber den Intendanzen sowie dysfunktionalen politischen und gesellschaftlichen Einflüssen bei und stärkt deren Fähigkeit, als Sachwalter der Allgemeinheit und nicht als Vertreter partikularer Interessen zu fungieren.

Anspruchsvolle Aufgaben

Zwar haben einzelne Länder die Notwendigkeit fachlicher Qualifikation erkannt. Bindende Vorgaben für einen geringen Teil der Rundfunkratsmitglieder existieren nur bei Radio Bremen. Beim WDR besteht eine Soll-Vorschrift im Hinblick auf Kenntnisse auf dem Gebiet des Rundfunks und der Telemedien. Angesichts der anspruchsvollen Aufgaben reichen solche Vorgaben nicht mehr aus. Soll das Prinzip des Binnenpluralismus beibehalten werden, wird dieses Prinzip zukünftig in allen Anstalten mit verpflichtenden Vorgaben für ein den Aufgaben entsprechendes Niveau an fachlicher Qualifikation der Räte verbunden werden müssen. Zudem müssen regelmäßige und qualifizierte Fortbildungen für die weitere Qualifizierung der Gremienmitglieder obligatorisch sein. Die Fortbildungen müssen sich auch auf das Haushaltswesen beziehen, schließlich entscheiden die Rundfunkräte über den Haushalt.

Nicht zuletzt ist die Größe eines Gremiums von Bedeutung für seine Funktionsfähigkeit. Unter diesem Gesichtspunkt sollte geprüft werden, inwieweit auch unter Beibehaltung des Prinzips der Gruppenrepräsentanz die Rundfunkräte um ihrer Arbeitsfähigkeit willen verkleinert werden müssten. So ist es durchaus fraglich, ob eine Größe von weit über 50 Mitgliedern wie etwa beim ZDF die Arbeitsfähigkeit eines Gremiums sicherstellt oder vielmehr beeinträchtigt.

Die Rundfunkräte wie auch die Intendanzen täten schließlich gut daran, die im Dritten Medienänderungsstaatsvertrag ausgesprochene Verpflichtung zur Etablierung eines kontinuierlichen Dialogs mit der Bevölkerung ernst zu nehmen. Die Institutionalisierung von Formen permanenter Programmbegleitung durch das Publikum kann zur Sicherung und Wiedergewinnung von Akzeptanz beitragen.

In wirtschaftlicher und technischer Hinsicht überwachen die Verwaltungsräte die Geschäftsführung des Intendanten. Sie müssen nicht gruppenplural aufgestellt sein, hingegen gilt auch für ihre Zusammensetzung das Prinzip der Staats- und Gruppenferne. Für die effektive Bewältigung der anspruchsvollen Aufgaben ist in besonderem Maße fachliche Expertise der Mitglieder notwendig. Es muss sich also (ganz überwiegend) um Sachverständige mit unterschiedlichen Kompetenzen im Bereich der Ökonomie, der Rundfunktechnologie, des Rechts und mit einschlägiger Berufserfahrung handeln, wie es das WDR-Gesetz bereits vorsieht. Eine ressortmäßige Zersplitterung der Zuständigkeiten muss unzulässig sein. Im Verwaltungsrat selbst zu treffende Entscheidungen müssen nach hinreichender Information und Diskussion in der Gesamtverantwortung aller Mitglieder gemeinsam getroffen werden.

Auch wenn dies im ZDF-Urteil nicht kategorisch ausgeschlossen ist, sollten Mitglieder von Regierungen nicht mehr in den Gremien vertreten sein. Denn sie repräsentieren in besonderer Weise staatliche Macht, die durch die Medien kontrolliert werden soll. Die Medien sollten ihrerseits aber nicht von Repräsentantinnen und Repräsentanten der staatlichen Exekutive kontrolliert werden.

Kontinuierliche Anwesenheit

Für Rundfunk- und Verwaltungsräte gilt im Übrigen: Effektive Aufsicht erfordert auch kontinuierliche Anwesenheit bei Gremiensitzungen. Das ist bislang nicht durchgängig der Fall. Daher müssen die Räte zur Teilnahme verpflichtet werden und dürfen nur bei Vorliegen nachzuweisender besonderer Gründe fehlen. Eine Veröffentlichung der Anwesenheitslisten, die überwiegend bereits erfolgt, dürfte eine regelmäßige Sitzungsteilnahme befördern.

Vor einer Überalterung und personellen Verkrustungen schützt eine Amtszeitbegrenzung auf zwei bis maximal drei Perioden - wie bei den ZDF-Gremien. Eine adäquate personelle und finanzielle Ausstattung der Gremienbüros muss gewährleistet sein. Die Entscheidung über die Verwendung der Mittel muss eigenverantwortlich durch die Gremien erfolgen. Auch dies trägt zur Unabhängigkeit gegenüber den Senderleitungen bei. Im Übrigen muss geprüft werden, inwieweit die externe Kontrolle der Sender durch die Rechnungshöfe - unter Beachtung der Programmautonomie - zu intensivieren ist.

Da die Rundfunkanstalten gemeinsame Maßstäbe für Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entwickeln müssen und es zudem sinnvoll wäre, die Qualitätsstandards für das Programm sowie effektive Compliance-Regeln für alle Anstalten zu vereinheitlichen, stellt sich im Hinblick auf die ARD die Frage, ob die dazu notwendigen Prozesse zunehmend auf die Konferenz der Gremienvorsitzenden verlagert werden sollten, die aus den Vorsitzenden der Rundfunk- und Verwaltungsräte der ARD-Anstalten besteht. Dann müssten der Gremienvorsitzendenkonferenz allerdings insoweit echte Entscheidungsbefugnisse verliehen und ein Entscheidungsmodus festgelegt werden, der die Konferenz handlungsfähig macht und Blockaden vermeidet.

Einer solchen „interföderalen“ Zusammenarbeit würden die Selbstverwaltungsrechte einzelner Landesrundfunkanstalten nicht prinzipiell entgegenstehen. Nicht zuletzt angesichts der Notwendigkeit fortschreitender Kooperation der Anstalten muss diskutiert werden, inwiefern die Entscheidungsabläufe innerhalb der ARD noch weitergehend „interföderalisiert“ werden sollten.

Risiko wechselseitiger Blockade

Im Zusammenhang mit dem Skandal um Patricia Schlesinger wird nun auch das Intendantenprinzip infrage gestellt, das die Gesamtverantwortung für die Geschäftsführung und das Programm bei der Intendantin oder dem Intendanten konzentriert. Dieses Modell ist nicht verfassungsrechtlich festgeschrieben. Frühere Versuche einer kollegialen Lösung beim Sender Freies Berlin und bei Radio Bremen sind allerdings gescheitert

In der Tat besteht bei kollegialen Lösungen das Risiko wechselseitiger Blockade und der Verantwortungsdiffusion. Insofern sollte das Intendantenprinzip nicht vorschnell aufgegeben werden. Die Gefahr eines Machtmissbrauchs durch Intendanten kann auch durch die strikte Wahrung des Vieraugenprinzips auf der Leitungsebene sowie eben durch eine effektive Gremienkontrolle minimiert werden.

All diese - zum Teil bereits in die Diskussion eingebrachten - Reformvorschläge führen aber nur zu einer effektiven Aufsicht und Kontrolle, wenn die Gremien mit unabhängigen Persönlichkeiten besetzt werden, die sich in den Dienst der Allgemeinheit stellen und ihre Funktion ernsthaft, kompetent und mit Engagement ausfüllen. Das sind freilich Voraussetzungen, die selbst durch die besten gesetzlichen Regelungen nicht garantiert werden können.

Aus epd medien 39/22 vom 30. September 2022

Karl-E. Hain und Tabea Rößner