Nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie stellt sich die Frage, wie Journalisten angemessen über Populisten und lautstarke gesellschaftliche Randströmungen berichten können. Schon bei den „Pegida“-Demonstrationen wurde diskutiert, wie es sich vermeiden lässt, dass Berichterstattung zu viel Aufmerksamkeit erzeugt. Noch komplizierter wird es, wenn ehemalige Amtsträger wie Hans-Georg Maaßen - sechs Jahre lang Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz - mit fragwürdiger Kritik etwa an der „Tagesschau“ in die Öffentlichkeit gehen. Und wenn sogenannte Querdenker mit unbelegten Behauptungen ihre Maßnahmenverweigerung begründen, spitzt sich das Problem zu, weil die Gesundheit der Bevölkerung auf dem Spiel steht. René Martens ist der Frage nachgegangen, wo die Fallstricke in der Berichterstattung liegen.
epd Als Tino Chrupalla im November 2019 zum Bundesvorsitzenden seiner Partei gewählt wurde, sendete das MDR-Politikmagazin „Exakt“ ein Porträt des AfD-Politikers. Er habe „in dem sächsischen Dorf, in dem er aufgewachsen ist, als Handwerker einen sehr guten Ruf“ und einen „steilen Aufstieg“ hinter sich, führten die Autoren aus. Der Bürgermeister des Orts bescheinigte Chrupalla „ein starkes Ego“ und nannte ihn „recht standhaft“, ein Schulkamerad ergänzte, Chrupalla sei früher „sportlich“ gewesen. In dem Beitrag wird durchaus Kritik an neuen Parteichef formuliert. Aber: „Steiler Aufstieg“, „sehr guter Ruf“, „recht standhaft“ „sportlich“, „starkes Ego“ - all diese Zuschreibungen sind vorteilhaft für ihn.
Zwei Jahre später ist dann der WDR recht zuvorkommend gegenüber Chrupalla. Mit einem Tweet, der ausschließlich aus der Meinung des AfD-Politikers zu den Pandemiemaßnahmen besteht, weist das vom Kölner Sender verantwortete „Morgenmagazin“ der ARD auf ein Interview mit ihm hin. Zu sehen ist eine Text-Foto-Kachel mit Zitaten aus dem Interview - „Wir müssen wegkommen von weiteren Maßnahmen und Verboten“ und „Diese Maßnahmen, die aktuell verhängt werden, ändern an der Infektionszahl in Deutschland überhaupt nichts“. Darüber stehen zwei Sätze, die Chrupallas Position paraphrasieren. Einordnung? Fehlanzeige. Ein Link zum rund vier Minuten langen Interview mit den teilweise hartnäckigen Nachfragen des Moderator Sven Lorig fehlt. Die legitimen, aber gesundheitspolitisch tendenziell gefährlichen Äußerungen Chrupallas unkommentiert zu verbreiten, ist eher kein Ausdruck journalistischen Verantwortungsbewusstseins.
Handwerkszeug funktioniert nicht
Journalismus kann im Alltag ohne Berichterstattungsroutinen und -mechanismen, ohne bei Bedarf nur leicht zu variierende Textbausteine und Standardformulierungen kaum funktionieren. Seit dem Aufkommen der AfD und erst recht seit dem stark verschwörungstheoretisch geprägten Protest gegen die deutsche Pandemiepolitik zeigt sich: Bei der Berichterstattung über Antidemokraten und andere Personen des öffentlichen Lebens, die gern die Wirklichkeit überdehnen, funktioniert dieses Handwerkszeug meistens nicht.
Dass der politische Nachrichtenjournalismus oft weit entfernt ist von einem verantwortungsvollen Umgang mit fragwürdigen Aussagen, hat der Medienjournalist Peter Weissenburger im August 2021 in der „tageszeitung“ (taz) anhand des Umgangs mit Äußerungen des CDU-Politikers Hans-Georg Maaßen beschrieben. Der frühere Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz hatte in einem Interview behauptet, es gebe „Verbindungen zwischen der 'Tagesschau' und der linksextremen Szene“. Journalisten, befand der taz-Redakteur, hätten das einordnen können als „unbelegte Behauptung“, „fragwürdige Unterstellung“ oder „Falschaussage“. Der Großteil der Berichterstattung fiel allerdings anders aus.
„Viele Medien übernahmen eine Meldung der Deutschen Presse-Agentur, die reihenweise die fragwürdigen Aussagen Maaßens ohne eigene Einordnung wiedergab“, kritisierte Weissenburger. Die Agentur habe zwar viele Maaßen-kritische Stimmen zu Wort kommen lassen, das Ganze dann aber unter dem Titel „Wirbel nach Maaßen-Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ zusammengefasst. Das Problem dabei: Mit dem Begriff „Kritik“ wird die Unterstellung des Politikers aufgewertet - während „Wirbel“ alle abwertet, die Maaßens Maßlosigkeit kritisieren. Mit der exzessiven Verwendung des Begriffs „Debatte“ verhält es sich ähnlich. Weisen mehrere Personen auf vernünftige Art eine hanebüchene Äußerung zurück, wird das schnell zu einer „Debatte“ stilisiert - als würden hier zwei Seiten mit gleichermaßen ernstzunehmenden Positionen miteinander streiten.
„Guter Journalismus ist immer eine Balance zwischen dem, was die Menschen hören wollen, und dem, was sie wissen müssen“, schrieb der US-Medienjournalist Ben Smith, unter hiesigen Journalisten bekannt geworden wegen seiner Recherchen zum früheren „Bild“-Zeitungs-Chefredakteur Julian Reichelt, in der „New York Times“ - in einem Text über die bei Netflix äußerst erfolgreiche medienkritische Komödie „Don’t look up“. Der Regisseur Adam McKay, so Smith, vertrete die Position, „dass ein über Jahrzehnte hyperaktiver Medienmarkt“ und zuletzt Facebook, Twitter, Instagram und Tiktok „die Dinge aus dem Gleichgewicht gebracht“ hätten.
Antidemokraten und Populisten profitieren in diesem Sinne also von diesem „hyperaktiven“ Medienmarkt, von Redaktionen, die klickträchtigen Überschriften nicht widerstehen wollen oder können. Was die Berichterstattung über die AfD angeht, gibt es neben dem teilweise von der Clickabilty getriebenen Framing ein weiteres gravierendes Problem: Die Akteure des Politikjournalismus nehmen in Beiträgen über die AfD oft die Perspektive anderer Parteien ein. Während eines Wahlkampfs fragen sie sich, wie viele Stimmen die AfD wohl bekommen werde und wie sich das verhindern ließe. Wenn es bei einer Wahl gut gelaufen ist für die AfD, klingt bei diesen Journalisten dann Besorgnis an - und im Falle eines schlechten Ergebnisses eine gewisse Genugtuung.
Konfliktscheuer Journalismus
Das wirft die Frage auf, warum sich Medien mehr für das Wahlverhalten von (potenziellen) AfD-Anhängern zu interessieren scheinen als für deren Einstellungen. „Wenn es die AfD nicht gäbe, wäre nicht alles gut“, sagt dazu Johannes Kiess, stellvertretender Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung an der Uni Leipzig im Gespräch mit dem epd. Kiess ist Mitautor der „Leipziger Autoritarismus-Studie“, die alle zwei Jahre erscheint und auf repräsentativen Erhebungen im Auftrag einer Arbeitsgruppe der Uni basiert.
In der aktuellen, 2020 veröffentlichten Ausgabe der Studie heißt es: „Während Menschen mit einer rechtsextremen Einstellung vor 2014 überwiegend die SPD und CDU wählten“, habe sich deren Priorität nunmehr geändert - zugunsten der AfD. Aber: Auf die Frage, welche Partei sie bei der Bundestagswahl wählen würden, nannten bei den Befragungen für die Studie 2020 immerhin noch 20,8 Prozent der „geschlossen-rechtsextrem Eingestellten“ die CDU, 3,8 Prozent die CSU und 11,8 Prozent die SPD. Oliver Decker, ein weiterer Autor der Leipziger Studie, sagte 2019 dem „Spiegel“, bereits in den ersten Erhebungen 2002 seien „ausgeprägte rechtsextreme Einstellungen“ gefunden worden. „Damals waren das Erstaunen und das Erschrecken groß, denn rechtsextreme Tendenzen waren noch nicht offen sichtbar. Heute ist das anders.“
Wenn sich in der Wahlberichterstattung rund um die AfD die Perspektive änderte, könnte die Frage in den Blick geraten, inwieweit lange vor deren Gründung andere Parteien (und auch die Medien) der Verfestigung rechtsextremer Einstellungen über Jahrzehnte wenig entgegengesetzt haben. Diese anderer Blickwinkel setzt aber Selbstkritik voraus - und möglicherweise auch eine gewisse Konfliktbereitschaft.
Tatsächlich ist der Journalismus diesbezüglich eher von einer Konfliktscheu geprägt - das zeigt sich besonders bei der Berichterstattung über die Demonstrationen gegen die Pandemiepolitik. Die Publizistin Carolin Emcke sah sich angesichts dieser Konfliktscheu kurz vor Weihnachten zu einer wütenden Kolumne für die „Süddeutsche Zeitung“ veranlasst: „Die letzten Jahre waren geprägt von einer absichtsvollen Unschärfe der Sprache, die alle Konturen des Radikalen abgeschliffen und verharmlost hat, als sei irgendwie alles zur Demokratie gehörig, selbst das, was die Demokratie zerstört.“ Dass es für Journalisten, die von diesem Radikalismus betroffen sind, weil sie entweder als Person oder zumindest als Teile von Institutionen, die als „zur Demokratie gehörig“ bedroht oder angegriffen werden, nicht leicht ist, in dieser Angelegenheit die richtige Form der Berichterstattung zu finden, kann man ihnen allerdings zugestehen.
Oberflächliche Beschreibungen
Verantwortungslos und feige seien die „rhetorischen Verrenkungen“ gewesen, die jahrelang in der Öffentlichkeit angestellt wurden, kritisierte Emcke weiter. „Was wurde da alles weichgespült, um nur bloß keine Abgrenzung formulieren zu müssen. Welche absurden Fehlinformationen wurden da aufgewertet als berechtigte 'Skepsis' oder 'Bedenken', die es unbedingt abzubilden und zu besprechen gelte.“
Emckes Kritik bezieht sich unter anderem darauf, dass sich viele Journalistinnen und Journalisten seit Beginn der Proteste darauf verständigt zu haben scheinen, die Demonstrationszüge als „bunte Mischung“ zu beschreiben - und dabei aus dem Aussehen, der Kleidung, dem Habitus, der Frisur oder dem Alter von Demonstrationsteilnehmern Rückschlüsse auf ihre politische Einstellung zu ziehen. Der Tenor solcher oberflächlichen Beschreibungen: Personen, deren Erscheinungsbild auf eine Zugehörigkeit zum „bürgerlichen Spektrum“ oder zu alternativen oder esoterischen Milieus schließen lässt, vertreten keine rechtsextremen Positionen.
Zu den Orten, die durch Demonstrationen von Impfgegnern und anderen Gegnern der Pandemiepolitik bundesweit ins Blickfeld gerieten, gehört die sächsische Stadt Bautzen. Ulli Schönbach ist dort Redaktionsleiter der Regionalausgabe der „Sächsischen Zeitung“. In einem Interview im Frühjahr 2021 sagte er, dass seine Redaktion das Milieu, das ab 2020 bundesweit unter dem Namen „Querdenken“ bekannt wurde, seit Mitte der 2010er Jahre kenne - von sogenannten Friedensmahnwachen etwa. „Da wusste man zunächst gar nicht, mit wem da eigentlich konfrontiert ist, weil die Leute nicht dem Bild des klassischen Rechtsextremen entsprachen“, so Schönbach. Bei genauerer Betrachtung habe man sehen können, dass das Milieu zwar sehr vielfältig sei, aber ein gemeinsames Thema habe: „das antisemitische Verschwörungsgeraune von einem 'tiefen Staat' und Ähnlichem.“ Dass die Szene das Thema Corona aufnahm, habe die Bautzener Redaktion der „Sächsischen Zeitung“ nicht überrascht: „Im Frühjahr 2020, während der ersten Corona-Welle, fiel uns bereits auf, dass wir die Köpfe dieses Protestes kennen“ - als „Pegida“-Reisende oder von vorherigen lokalen Aktivitäten.
Auch wenn sich die Zusammensetzung der Demonstrationsteilnehmer mitunter von Region zu Region unterscheidet und wenn Beschreibungen von Äußerlichkeiten grundsätzlich in Ordnung sind, sollte sich langsam die Erkenntnis durchsetzen, dass diese vom Kern ablenken. Dennoch berichtete der MDR Ende Dezember von einer Demonstration in Erfurt: „Es ist eine bunte Mischung, Junge und Alte, vom Teenager im Trainingsanzug bis zur reifen Dame im eleganten Wintermantel.“
Reife Radikale
Apropos alt und reif: Als der Journalist Jan-Henrik Wiebe Anfang Januar für „tagesschau.de“ Recherchen zu Tötungsaufrufen zusammenfasste, die sich auf Telegram gegen Politiker, Wissenschaftler und Journalisten richteten (vgl. Meldung in dieser Ausgabe), fiel ihm auf, dass die Aufrufer „im Schnitt 60 Jahre alt“ sind - zumindest, wenn man deren Profilbilder als Maßstab nehme. Abgesehen davon mangelt es wahrlich nicht an Bildern von Demonstrationen, auf denen zu sehen ist, wie Menschen im sehr reifen Alter in Auseinandersetzungen mit der Polizei außer Rand und Band geraten.
Eine Kritik mit einem ähnlichen Tenor wie Carolin Emcke formulierte Piotr Kocyba, Protestforscher an der Technischen Universität Chemnitz und Mitherausgeber des im Dezember erschienenen Arbeitspapiers „Rechte Proteste erforschen. Erfahrungen und Reflexionen aus der qualitativen und quantitativen Forschung“: „Wie bei 'Pegida' wollten es viele Beobachterinnen und Beobachter, Kommentatorinnen und Kommentatoren sowie Politikerinnen und Politiker zunächst nicht wahrhaben, dass wir es hier mit Personen zu tun haben, die gar keine klassischen Neonazis sein müssen, um unsere Demokratie zu gefährden und Gewaltphantasien Taten folgen zu lassen.“ Solche Personen seien „sogar viel gefährlicher als der extremistische Rand der Gesellschaft“, unter anderem, „weil sie eine größere Mobilisierungswucht entwickeln“ und „von der Mehrheitsgesellschaft nicht ansatzweise vergleichbar wie Neonazis stigmatisiert werden.“
Die von Kocyba konstatierte Kurzsichtigkeit ist auch in anderen Bereichen der Berichterstattung problematisch. Nachdem Anfang Dezember in Grimma Fackelträger „im Stil der SA oder des Ku-Klux-Klans“ („Frankfurter Allgemeine Zeitung“) vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping aufmarschiert waren, kritisierte Christian Vooren bei „Zeit Online: “Jetzt schienen viele wieder überrascht über den Fackelmob vor dem Haus der Gesundheitsministerin" - obwohl sich doch bereits im Januar 2021 eine größere Gruppe vor dem Privathaus des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) versammelt hatte. Man hätte aus der jüngeren Vergangenheit auch andere Beispiele für eine Radikalisierung auf allen Ebenen nennen können, den versuchten Sturm auf den Reichstag im August 2020 etwa.
Ungünstige Rezeptionsgewohnheiten
Angemessenere mediale Reaktionen auf den Protest auf den Straßen wäre auch möglich gewesen, wenn mehr Journalisten auf die Wissenschaft gehört hätten - um eine Forderung zu variieren, die im Zusammenhang mit Virologie und Epidemiologie oft zu hören ist. Sie ist aber auch mit Blick auf einen verantwortungsvollen Umgang mit antidemokratischen und populistischen Haltungen stimmig. Bereits im April 2019 veröffentlichte das Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (IKG) eine Zusammenfassung seiner „Mitte-Studie“, die sich liest, als wäre sie im dritten Pandemiejahr geschrieben worden.
Zum Thema Verschwörungstheorien ergab die repräsentative, im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung erstellte Untersuchung unter anderem: 46 Prozent der Befragten meinten, „es gäbe geheime Organisationen, die Einfluss auf politische Entscheidungen haben“, fast ein Viertel der Befragten meinte, Medien und Politik steckten unter einer Decke, und jede zweite befragte Person gab an, den eigenen Gefühlen mehr zu vertrauen als Experten
Zudem beweise die Studie, „dass jene, die solchen Verschwörungsmythen glauben, zugleich misstrauischer gegenüber dem politischen System“ seien und „eine höhere Gewaltbereitschaft gegen andere“ zeigten. So gesehen kommt das, was sich derzeit fast jeden Abend auf den Straßen in vielen deutschen Städten abspielt, gar nicht überraschend. Auch die Einordnung, die Jonas Rees vom IKG vor drei Jahren vornahm, klingt sehr aktuell: „Wenn Verschwörungstheorien sogar Gewalt legitimieren, dann können sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie als solche gefährden.“
Dass der Wille zu einem nicht allzu weiten Blick zurück fehlt, ist auch auf mediale Mechanismen zurückzuführen. „Journalism is constructed around finding something new. (I think that’s why they’re called newspapers.)“, schreibt Bill McKibben in einem Beitrag für das Nieman Journalism Lab, das an der Harvard University angesiedelt ist. Von einer wachsenden Gefahr zu schreiben, einer neuen Radikalisierung, einer dramatischen Entwicklung oder einer bisher nicht gekannten Qualität der Gewaltbereitschaft, die niemand vorhersehen konnte - das funktioniert aufmerksamkeitsökonomisch besser als ein Text, dessen Kernbotschaft sinngemäß lautet: „Wir haben es seit Jahren mit einem gravierenden Problem zu tun.“ Der Journalismus hat selbst viel dazu beigetragen, dass sich solche Rezeptionsgewohnheiten herausgebildet haben.
Soziologische Besonderheit
Eine weitere Frage, die man in der Diskussion über die Mitverantwortung der Medien für die Ausbreitung von antidemokratischen und populistischen Tendenzen stellen muss, lautet: War der Umfang der medialen Abbildung der Querdenker, der Maßnahmenverweigererinnen und der aus Überzeugung handelnden Impfverweigerer im Verhältnis „zu ihrer tatsächlichen Zahl“ gerechtfertigt? So hat es die Kommunikationswissenschaftlerin Samira El Ouassil in ihren „Lektionen aus 2021 für Journalisten - und alle anderen“ für das Portal „Übermedien“ formuliert.
El Ouassils Antwort darauf lautet: Ja und nein. Denn: „Dass man über diese Gruppe(n) berichtet, hat deshalb schon einen Wert, weil sie eine soziologische Besonderheit in Deutschland zu sein scheinen. In anderen europäischen Ländern sind die Zahlen extremistischer Maßnahmenverweigerer verhältnismäßig kleiner.“ Es gebe in dieser Gruppe aber auch Personen, deren „Selbstinszenierung und Sehnsucht nach Bestätigung man eben nicht durch Bilder und Berichte belohnen sollte“.
Claus Kleber sagte in einem Interview mit der „Zeit“, das er Ende 2021 anlässlich seines Abschieds vom „Heute Journal“ gab, „die Skepsis dieser Leute und ihr Gefühl: Die da oben wollen uns doch nur kontrollieren und steuern’“, verdiene Gehör, „auch wenn wir das inhaltlich für falsch halten“. Darüber gebe es „jeden Tag Debatten in der Redaktion: Müssen wir das denn schon wieder zeigen?“ Klebers Haltung dazu: „Als gute Reporter müssen wir auch über Nischen der Gesellschaft berichten.“
Überrepräsentiert in der Berichterstattung
Der SPD-Politiker Ulrich Kelber, einst stellvertretender Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Bundestag und Staatssekretär im Justizministerium, bemerkte Anfang Januar: „Jeden Tag lassen sich in Deutschland mehr Menschen erstimpfen, als jemals an einem Tag an Querdenker-'Spaziergängen' teilgenommen haben. Jeden Tag eine Abstimmung mit den Füßen. Die Minderheit marschiert für sich, die Mehrheit als Gemeinschaft.“ In diesem Sinne ist die Skepsis der Leute, die das Gefühl haben, dass „die da oben uns doch nur kontrollieren und steuern wollen“, gewiss überrepräsentiert in der Berichterstattung.
In diesem Zusammenhang stellen sich allerdings noch weitere Fragen: Sind andere vergleichbare oder größere „Nischen der Gesellschaft“ (Kleber) in den Nachrichtensendungen und -magazinen von ARD und ZDF in einem vergleichbaren Umgang präsent? Haben die Sender über Proteste aus andere Nischen auch nur annähernd so ausführlich berichtet wie über die Demonstrationen von Gegnern der Pandemie-Politik?
Um die maßgebliche Frage, ob die Medien den Aufmärschen dieser maximal gefährlichen Minderheit zu viel Raum gegeben haben, zufriedenstellend beantworten zu können, braucht es statistische Daten. Es wäre erfreulich, wenn beispielsweise eine Stiftung eine entsprechende Studie in Auftrag geben würde.
Aus epd medien 1/2 vom 14. Januar 2022