In der Nische
Das Kinderfernsehen droht zu verschwinden

epd Die Mediennutzung von Kindern hat sich gewandelt. Auch Kinder nutzen das Internet und soziale Netzwerke, um Inhalte zu sehen, die sie interessieren. Dennoch bleibt das Kinderfernsehen ein wichtiger verlässlicher Ankerpunkt. Doch Sendungen für Kinder müssen um Aufmerksamkeit kämpfen, stellt unser Autor Tilmann Gangloff fest. Nach Meinung der Programmmacher geht es heutzutage vor allem darum, Kindern eine digitale Heimat zu bieten.

epd „Kinder sind unsere Zukunft“, heißt es gern in politischen Sonntagsreden. Die Botschaft soll beruhigen, vor allem die Eltern: Keine Sorge, wir kümmern uns. Kinder sind jedoch nicht Zukunft, sondern Gegenwart. In der Zukunft müssen sie all das ausbaden, was ihre Eltern und Großeltern verbockt haben, aber in der Gegenwart haben sie keine Lobby, weil sie, wie Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger lakonisch feststellt, „keine Autos kaufen“.

Maya Götz sieht die Wurzeln des Missstands allerdings nicht in der Ökonomie, sondern in der Politik. Diese Haltung, sagt die Leiterin des beim Bayerischen Rundfunk angesiedelten Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI), „ist in Deutschland institutionell so tief verankert, dass die Gesellschaft gar nicht merkt, wie kinderfeindlich sie ist. Natürlich gibt es Institutionen, die auf Kinderarmut, Kinderpornografie oder Kinder als Opfer häuslicher Gewalt hinweisen. Das sorgt dann jedes Mal für Schockmomente und löst Entrüstung aus, ändert aber nichts an der Grundproblematik. Dass Kinder in vielerlei Hinsicht Opfer sind, wird nicht in politisches Handeln übertragen.“

Die Perspektive der Kinder

Kein Wunder also, „dass die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Vorlieben von Kindern in unserer Gesellschaft zu wenig berücksichtigt werden“, wie Margret Albers feststellt. Die frühere Leiterin des Kindermedienfestivals Goldener Spatz ist heute Präsidentin der European Children’s Film Association (ECFA). Ihr Beleg für dieses Denken sind die Schulferien: „Länge und Terminierung haben nichts mit der Lernkurve von Kindern zu tun, sondern ihren Ursprung insbesondere darin, dass in vorindustrieller Zeit Kinder als Arbeitskräfte auf dem Feld gebraucht wurden. Dass daran im 21. Jahrhundert noch festgehalten wird, ist erschütternd und macht die Unsichtbarkeit von Kindern im gesellschaftlichen Diskurs überdeutlich.“

Das spiegelt sich auch im Fernsehen wider. „Kinderprogramm führt im medialen Gesamtangebot nach wie vor ein Nischendasein“, sagt Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing und Vorsitzender der Jury Kindermedien beim Robert Geisendörfer Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche. Selbstverständlich habe diese Altersgruppe Anspruch auf ein qualitätvolles Angebot, doch in der Praxis sei das wenig wert, wie die Entwicklung der letzten Jahre zeige. Daran ändere auch der Kika nichts. „Dass die Interessen von Kindern wenig Beachtung finden, ist ein Grundübel unserer Gesellschaft.“ Das habe auch die Bekämpfung der Pandemie vor Augen geführt: „Die Rechte von Kindern werden allzu oft ignoriert. Was nicht mit Blick auf ihre medialen Bedürfnisse initiiert wird, hat negative Auswirkungen auf ihre Entwicklung. Neben einer entsprechenden finanziellen Ausstattung braucht es die Förderung von Projekten, die Kinder in ihrer Lebenswelt ansprechen, eine kindgerechte Perspektive einnehmen und Bildung und Unterhaltung besser verknüpfen.“

Medienwissenschaftler Hallenberger sagt: „Je mehr Geld eine Gesellschaft in die Bildung steckt, desto mehr fördert sie damit Kreativität und das Denken in Alternativen sowie als Konsequenz zukünftigen gesellschaftlichen Zusammenhalt und zukünftige Lebensqualität. Fernsehen für Kinder ist immer auch Bildungsfernsehen, denn alle ihre Fernseherlebnisse tragen zur Erweiterung ihres Weltwissens bei, in allen Genres.“ Auch in Deutschland würden Angebote gefördert, die Spaß und Lerneffekte verbinden. Trotzdem sei die Altersgruppe bei uns „so wenig wohlgelitten wie in wohl keinem anderen europäischen Land“.

Götz benennt als Problem auch die konservative Familienpolitik gerade der Unionsparteien, der zufolge Familie und Kinder „nicht besonders gefördert werden oder institutionell eine Stimme haben müssen“. Diese Haltung habe nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche geprägt, auch und gerade die Medien; Götz spricht von „Bewahrpädagogik“. Ende der 50er Jahre hatten Kinder selbst in Begleitung Erwachsener erst mit sechs Jahren Zutritt zu Kinos. Die ARD legte daher 1958 fest: Auch im Fernsehen wird Vorschulkindern kein Programm angeboten. Kinderfernsehen gab es allerdings durchaus, bereits seit April 1951: Die Psychologin Ilse Obrig führte in ihrer Sendung „Kinderstunde mit Dr. Ilse Obrig“ Basteleien und Spiele vor. Kinderfernsehen sollte einen Nutzwert haben, allenfalls Puppenspiele durften der reinen Unterhaltung genügen.

Gut 70 Jahre später sieht das anders aus. Auch öffentlich-rechtliches Kinderfernsehen dient größtenteils dem Zeitvertreib, seit dem Start des Kinderkanals am 1. Januar 1997 sogar fast rund um die Uhr. Dennoch gibt es Menschen, die behaupten, der Kika sei gegründet worden, weil das Kinderfernsehen in den beiden Hauptprogrammen zunehmend als Störfaktor empfunden worden sei.

Die Direktorin des Grimme-Instituts Frauke Gerlach weist jedoch auf einen Vorteil hin: „Eltern wissen, wo sie zuverlässig qualitätsorientiertes Kinderfernsehen finden, der Kika ist in dieser Hinsicht eine gute Adresse. Allerdings kritisiert auch sie die zunehmende Verspartung und Segmentierung.“ Zufällige Begegnungen mit dem Kinderfernsehen seien heute nicht mehr möglich: „Der gleiche Effekt ergibt sich bei Angeboten, die durch Algorithmen auf die individuellen Sehgewohnheiten zugeschnitten sind.“

Wenig Expertise

Mit der Gründung des Kinderkanals ist daher auch das Kinderprogramm aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden, auch wenn Albers anmerkt, das Kinderfernsehen sei auch früher meist erst dann in den Blick der Öffentlichkeit geraten, „wenn es skandalisiert wurde“, etwa bei den Diskussionen um die Serien „Power Rangers“ und „Teletubbies“. Dass das audiovisuelle Angebot für Kinder heutzutage so reich und vielseitig sei wie nie und auf zahlreichen Plattformen zugänglich, „ist dagegen keine Meldung wert“. Dies könne aber auch daran liegen, dass sich das Fernsehen generell in der Kulturöffentlichkeit der Feuilletons schwertut.

Auch Gerlach bezweifelt, dass das Kinderfernsehen vor 15 Jahren in der Öffentlichkeit präsenter war als heute, sie weist aber auf eine grundlegende Veränderung der Medienlandschaft hin: „Damals gab es eine viel umfassendere medienkritische Auseinandersetzung. Mittlerweile ist die Berufsgruppe Medienjournalismus deutlich kleiner geworden, weil die Zahl der Medienseiten in den Qualitätszeitungen stark abgenommen hat. Dort wird der Fokus natürlich eher auf Produktionen für Erwachsene gelegt: neue Serien, neue Mehrteiler und an jedem Wochenende der neue 'Tatort'.“

Und Michael Stumpf, Leiter der ZDF-Hauptredaktion Kinder und Jugend, stellt fest: „Die Berichterstattung über Kindermedien trifft auf eine Pressewelt, in der die Redaktionen ihr Personal reduzieren müssen. Deshalb gibt es in den Verlagshäusern möglicherweise auch weniger Kindermedien-Expertise.“ Aus diesem Grund würden Kinderformate häufiger in Form von Empörungswellen in den digitalen Netzwerken thematisiert als vom klassischen Journalismus aufgegriffen.

Die Kika-Programmgeschäftsführerin Astrid Plenk beobachtet auch Veränderungen in der Zielgruppe: Es sei heute eine viel größere Herausforderung als vor 20 Jahren, „ein Schulhofthema zu setzen“, sagt sie. Trotzdem werde in den Familien oft über Beiträge aus der Kindernachrichtensendung „Logo!“ diskutiert. Der Kika frage sich ständig, „für wen wir eigentlich unser Programm machen und welche Interessen unsere Zielgruppe hat“, sagt Plenk. Kinder seien da schon immer stark eingebunden gewesen.

Kommentieren und Teilen

Thorsten Braun, Geschäftsführer des privaten Kindersenders Super RTL, schätzt die Situation ähnlich ein und betont die Bedeutung von Eigeninitiative: „Grundsätzlich wünschen wir uns natürlich, dass dem Kinderfernsehen in der Öffentlichkeit eine höhere Relevanz beigemessen wird. Dennoch liegt es auch an uns, die knapp besetzten Redaktionen von der Attraktivität unserer Themen zu überzeugen. Als Marktführer haben wir die Erfahrung gemacht, dass ein einfacher Programmhinweis nicht ausreicht. Wenn wir aber gute Geschichten rund um unsere Programme bieten, werden sie auch aufgegriffen.“ Dass Super RTL selten Gegenstand öffentlicher Kontroversen sei, ist nach Ansicht Brauns eine Folge der besonders starken Regulierung durch die Landesmedienanstalten: „Wir bewegen uns in einem rechtlich klar definierten Rahmen, in dem man sich keine Verfehlungen erlauben darf.“

Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes, sieht einen deutlichen Wandel in den letzten Jahren: „Die Räume, Formate und Verbreitungswege, über die Inhalte für Kinder bereitgestellt werden, haben sich im Zuge der fortschreitenden Medienkonvergenz verändert. So wird das traditionelle lineare Fernsehen zunehmend durch nonlineare Verbreitungswege und Formate abgelöst, beispielsweise durch Streaming- und Videoplattformen wie Netflix und Youtube, durch Mediatheken oder Videos auf Social Media.“ Daher habe sich auch der Fokus der Berichterstattung verlagert: Soziale Netzwerke seien für Kinder spannend, „besteht doch dort neben der reinen Rezeption auch die Möglichkeit, interaktiv mit den Inhalten umzugehen, etwa über Funktionen wie das Kommentieren oder Teilen“.

Daher befasse sich auch die journalistische Berichterstattung über die Mediennutzung der Kinder eher mit neueren Formaten wie Tiktok, Youtube oder Netflix, sagt Krüger. Aus kinderrechtlicher Sicht sei es wünschenswert, bestehende und qualitätsgesicherte Kinderfernsehangebote wie etwa den Kika weiterzuführen und weiterzuentwickeln, um Kindern ein konstantes Programmangebot zu machen, das ihren Bedürfnissen und Rechten gemäß der UN-Kinderrechtskonvention entspreche. Ein solches Programmangebot benötige Multiplikation und Bekanntmachung.

Als positives Beispiel für eine qualitätsvolle und an der Mediennutzung der Kinder orientierte Programmbeobachtung nennt Krüger „Flimmo“, ein Projekt der Landesmedienanstalten, das seit 1996 Bewegtbildinhalte bewertet. Der SPD-Politiker, der auch Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung ist, plädiert für „eine engagierte Debatte über Qualitäten von Kinderfernsehangeboten und die Gewährleistung dieser Angebote beispielsweise über öffentlich-rechtliche Strukturen“.

Verschwinden der Kindheit

Für Hallenberger stellt sich die Frage, ob Kinder heutzutage überhaupt noch Kinderfernsehen brauchen und ob sie „nicht ohnehin lieber Sendungen für Jugendliche und Erwachsene“ sehen. Doch dann fragt der Medienwissenschaftler grundsätzlich: „Wie viel Kindheit bleibt Kindern denn heute noch? Wie viel Zeit können sie selbstbestimmt nutzen, wenn sie schon mit drei Jahren Fremdsprachen für den Arbeitsmarkt des Jahres 2050 lernen sollen? Wir erleben aktuell in einer bizarren Kombination aus Digitalisierung und Ökonomisierung das Verschwinden der Kindheit 2.0.“

Kinder, bestätigt Kika-Geschäftsführerin Plenk, seien in der Tat vielseitig unterwegs: „Das bezieht sich auf die Inhalte wie auch auf die Ausspielwege. Ihre tägliche Medienzeit umfasst mehr als 120 Minuten. Früher waren das 90 Fernsehminuten, heute verteilt sich die Zeit auch auf Tiktok, Youtube, Podcasts und den Kika-Player.“ Ab etwa zehn Jahren widmeten Kinder ihre Zeit in der Tat gemeinsam mit Eltern oder älteren Geschwistern verstärkt den Sendungen aus dem Erwachsenenfernsehen, andererseits schauten sie gemeinsam mit jüngeren Geschwistern auch nach wie vor gern Kindersendungen. Gerade die Zehn- bis Dreizehnjährigen nutzten häufig sogenannte Drittplattformen, deshalb sei es wichtig, „dass der Kika auch auf Youtube präsent ist, stets verbunden mit der Prämisse: Auf kika.de gibt’s noch viel mehr tolle Angebote zu entdecken.“

Unterstützung bekommt Plenk durch Gudrun Sommer, Leiterin von doxs!, einem Festival für Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche. Kinderfernsehen, sagt Sommer, „wird nicht gesellschaftlich marginalisiert, sondern strukturell und finanziell“. Der vermeintliche Bedeutungsverlust sei eher ein Defizit an Ressourcen. Dennoch erreiche das Kinderfernsehen auch unter diesen schwierigen Bedingungen sein Publikum: weil es dem Programm überzeugender als den Redaktionen fürs Erwachsenenprogramm gelinge, Fernsehen „nicht nur für, sondern auch mit der Zielgruppe neu zu denken und zu entwickeln. Vielleicht wäre es konsequenter, die Bedeutung des Kinderfernsehens in der Öffentlichkeit stärker daran festzumachen, wie viel Aufmerksamkeit ihm eine Teilöffentlichkeit, nämlich die Kinder selbst, beimisst.“

Dass das Kinderfernsehen nicht gut ausgestattet ist, bemängelt auch Gerlach. Wenn es zu sehr zur Nische wird, „geht verloren, worum wir uns bemühen“, warnt sie: „Dass qualitätsvolle Produktionen für Kinder und Jugendliche auch möglichst viele Mitglieder dieser Zielgruppe erreichen, der ja ohnehin nachgesagt wird, dass sie sich allzu leicht im Internet verliert. Wir wollen verhindern, dass junge Leute ihre Informationen nur über Influencer bekommen und sich ansonsten nur unterhalten lassen.“

Digitale Heimat

Im Entwurf zum neuen Medienstaatsvertrag heißt es: „Allen Bevölkerungsgruppen soll die Teilhabe an der Informationsgesellschaft ermöglicht werden. Dabei erfolgt eine angemessene Berücksichtigung aller Altersgruppen, insbesondere von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.“ Das könnte man als Forderung interpretieren, die Belange von Kindern auch in den Hauptprogrammen stärker zu berücksichtigen. Tatsächlich räumt ARD-Programmdirektorin Christine Strobl ein, dass es im klassischen Programm kein ausreichendes Angebot für Kinder gibt. Die Gründe seien vielfältig und nicht zuletzt eine Folge der demografischen Entwicklung: „Kinder machen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung eben nur einen kleinen Anteil aus.“

Für Strobl, die während ihrer Zeit beim SWR vier Jahre für das Kinder- und Familienprogramm des Senders verantwortlich war, ist wichtig, „dass unser Angebot für Kinder Relevanz hat, was sich unter anderem in den vielen Fernsehpreisen widerspiegelt, die unsere Sendungen regelmäßig erhalten. Diese Auszeichnungen haben einen öffentlichen Effekt, sie rücken das Kinderfernsehen ins Bewusstsein der Allgemeinheit.“ Trotzdem ist die Programmdirektorin „zutiefst davon überzeugt, dass ARD und ZDF ein gemeinsames Angebot in der digitalen Welt etablieren müssen“. Es genüge nicht, die Kinder mit kika.de, „Checkeins“ (das Angebot für Kinder und Familie in der ARD-Mediathek) oder ZDFtivi zu erreichen: „Wir müssen uns viel stärker vernetzen und den Kindern eine digitale Heimat bieten. Nur eine solche gemeinsame Plattform wäre mit anderen Kinderprogrammanbietern wie Disney dauerhaft konkurrenzfähig.“

Diesem Wettbewerb begegnet Super RTL laut Braun „mit einer konsequenten Multiplattformstrategie, die sowohl auf digitale als auch auf analoge Präsenz setzt“. Super RTL sei „mit der Dachmarke Toggo überall dort, wo die Kinder sind“. Die Inhalte würden über Websites, Apps, Games oder Liveevents erlebbar gemacht: „Auf diese Weise bleiben wir konstant in direktem Kontakt mit den Kindern, selbst wenn sie nicht mehr täglich linear fernsehen.“ Steigende Nutzungszahlen belegten, „dass Kinderunterhaltung für die junge Zielgruppe höchst relevant ist und bleibt. Es gibt so viele Anbieter, die sich um Vielfalt und qualitativ hochwertige Inhalte kümmern. Das sollte Anreiz genug sein, Kindern und Kindheit in der Öffentlichkeit mehr Lobby und Aufmerksamkeit zu schenken.“

Aus epd medien 6/23 vom 10. Februar 2023

Tilmann Gangloff