Seit Jahren monieren Betroffene und Behindertenverbände die niedrige Bezahlung in den Werkstätten für behinderte Menschen. Auch die Forderung, dort den Mindestlohn vorzuschreiben, ist immer wieder zu hören. Wilfried Oellers, Behindertenbeauftragten der CDU/CSU Bundestagsfraktion, schlägt im Interview mit epd sozial einen anderen Weg vor, die Einkommen der Werkstatt-Beschäftigten zu erhöhen.
Berlin (epd). Für Wilfried Oellers ist klar: Die Beschäftigten in den Werkstätten brauchen ein höheres Einkommen. Und: Das wird mehr Geld des Steuerzahlers kosten. Aber, so der Fachmann im Interview: Der von ihm vorgeschlagene finanzielle Aufschlag auf das Arbeitsförderungsgeld lasse sich „durch Umschichtungen im Sozialetat des Bundes finanzieren“. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Herr Oellers, mal wieder steht die Forderung im Raum, Beschäftigten in Werkstätten statt einem Entgelt den Mindestlohn zu bezahlen. Sie haben da Bedenken. Warum?
Wilfried Oellers: Der Mindestlohn steht Beschäftigten auf dem regulären Arbeitsmarkt zu. Da gehört er hin. Doch bei den Werkstattbeschäftigten handelt es sich um größtenteils voll erwerbsgeminderte Menschen, die nicht zu üblichen Bedingungen arbeiten können. Ihr Arbeitsumfeld ist ein ganz anderes als in der freien Wirtschaft, auch die Anforderungen sind völlig anders. Das spricht dagegen, den Betroffenen einen Mindestlohn zu zahlen. Zudem sehe ich sozialen Sprengstoff, der sich mit dem Recht auf Mindestlohn im Vergleich zu Nichtwerkstattbeschäftigten mit Mindestlohn ergeben würde. Denn die Schutzrechte und der Nachteilsausgleiche sollen ja erhalten bleiben, zum Beispiel der besondere Kündigungsschutz und die Aufstockung der Rentenpunkte entsprechend 80 Prozent eines Durchschnittslohns. Und: Ein Mindestlohn in Werkstätten mindert die Anreize der Betroffenen, auf den ersten Arbeitsmarkt zu wechseln.
epd: Genau diese Wechsel gelingen aber seit Jahren kaum.
Oellers: Richtig. Aber es gibt ja politische und praktische Bemühungen, mehr Menschen aus den Werkstätten zu holen. Aber das bleibt auch in Zukunft eine große Herausforderung. Wir dürfen hier nicht nachlassen.
epd: Sie wollen erreichen, dass die Bezahlung in den Werkstätten dennoch besser wird. Wie könnte das gelingen, jenseits des Mindestlohns?
Oellers: Das Thema Werkstattentgelt beschäftigt mich als Behinderten- beziehungsweise Teilhabebeauftragter unserer Fraktion nun schon seit 2019. Damals hatten wir mit einer Gesetzesnovelle entsprechend der damaligen BAföG-Erhöhung die Bundesausbildungsbeihilfe und das Ausbildungsgeld erhöht. Aufgrund einer Kopplungsnorm im Sozialgesetzbuch IX steigt damit das von den Werkstätten aus ihrem Arbeitsergebnis zu finanzierende Werkstattentgelt dann aber auch automatisch mit. Jetzt gab es im Sommer wieder eine BAföG-Erhöhung. Wie schon 2019 trat auch diesmal das Problem zutage, dass viele Werkstätten wirtschaftlich damit überfordert sind, den erhöhten Grundbetrag des Werkstattentgelts, insbesondere aber den Steigerungsbetrag für besonders leistungsfähige Werkstattbeschäftigte auch zu finanzieren. Das führte dann aus wirtschaftlichen Gründen faktisch zu Entgeltkürzungen bei den Beschäftigten. Und aufgrund von Corona-Pandemie, Ukrainekrieg und in dessen Folge hohen Energiekosten hat sich die wirtschaftliche Lage für viele Werkstätten zwischenzeitlich noch verschärft. Ich schlage deshalb einen anderen Weg vor.
epd: Wie könnte der aussehen?
Oellers: Mein Modell sieht vor, das staatlich finanzierte Arbeitsförderungsgeld, das Werkstattbeschäftigte schon jetzt neben dem Grund- und Steigerungsbetrag erhalten, übrigens ohne Anrechnung auf Sozialleistungen, als stabile Größe des Werkstattlohns zu stärken und damit auch einen Systemfehler zu beheben. Steigen das staatlich finanzierte BAföG und Ausbildungsgeld, soll diese Erhöhung auf das staatlich finanzierte Arbeitsförderungsgeld erfolgen und nicht mehr von den Werkstätten erwirtschaftet und finanziert werden müssen. Zusätzlich könnte ich mir vorstellen, das Arbeitsförderungsgeld noch um einen pauschalen Betrag einmalig zu erhöhen. Weiterhin sollte es keine Deckelung mehr geben, wenn Grund- und Steigerungsbetrag und Arbeitsförderungsgeld zusammen den Betrag von 351 Euro überschreiten.
epd: Was wäre dann gewonnen?
Oellers: Mit diesem Modell kämen die Erhöhungen des Werkstattentgelts auch vollständig bei den Beschäftigten an. Zusätzlich wünsche ich mir, das Entgeltsystem insgesamt zu vereinfachen und mit einheitlichen „Lohnabrechnungen“ für mehr Transparenz als heute zu sorgen, in denen künftig alle Lohnbestandteile ausgewiesen werden. Denn der Werkstattlohn setzt sich ja aus sehr vielen Komponenten zusammen, zu denen insbesondere auch Grundsicherung und Erwerbsminderungsrente zählen.
epd: Da kämen dann aber vermutlich höhere Kosten auf den Steuerzahler zu. Und das in Zeiten knapper Kassen.
Oellers: Es ist richtig, ohne zusätzlichen finanziellen Aufwand wird man keine Lösung für ein besseres Entgeltsystem umsetzen können. Allerdings wäre mein Modell vergleichsweise günstig. Die „Studie zu einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen und deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt“ aus dem Jahr 2023 geht von 166 Millionen Euro jährlichen Mehrkosten aus. Ich habe mal durchgerechnet, dass selbst mit einem zusätzlichen pauschalen Aufschlag von zum Beispiel 50 Prozent des jetzigen Arbeitsförderungsgelds man sich zwischen 200 und 300 Millionen Euro Zusatzkosten bewegen würde. Die in der Werkstattstudie ebenfalls durchgerechneten Mindestlohnmodelle sind zum Teil deutlich teurer, bis hin in den Milliardenbereich.
epd: Wie ließe sich diese Finanzierung dennoch stemmen?
Oellers: Ich meine, man sollte zu einer fairen Kostenaufteilung zwischen dem Bund und den Ländern kommen, die momentan den Hauptteil des Arbeitsförderungsgelds tragen. Ich glaube auch, dass sich im Sozialetat des Bundes mit seinen knapp 180 Milliarden Euro Spielräume finden lassen, durch Umschichtungen die zusätzliche steuerfinanzierte Komponente zu finanzieren.