epd Wie Gregor Samsa erwacht HR-Moderator David Ahlf aus unruhigen Träumen und findet sich zwar nicht in einen Käfer, aber doch in einen astreinen Militärfreak mit kugelsicherer Weste verwandelt. Ihn beschäftigt eine Frage, die viele Deutsche derzeit durchkauen: Wie viel Pazifismus können wir uns angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine noch erlauben?
Anspielungen auf „Die Verwandlung“ ziehen sich als Leitmotiv durch die Pazifismus-Folge von „Studio Komplex“. Das Format läuft seit Ende März letzten Jahres immer freitags linear auf dem Sendeplatz von „Der Tag“ bei HR2-Kultur, ist aber zuallererst als Podcast gelabelt und war als solcher nun auch für den Deutschen Hörbuchpreis nominiert. Immer wieder unterbricht ein Sprecher Ahlfs Interviews und rezitiert Texte im Kafka-Stil, in denen die Gewissensqualen des Moderators beschrieben werden. Solche Elemente sind typisch für „Studio Komplex“, das „Show gewordenen Journalismus“ bieten will.
Das kann man mit Fug und Recht marottenhaft finden. Doch trotz aller Spielereien gelingt Ahlf im Gespräch mit seinen Interviewpartnerinnen eine sehr ausgewogene Abhandlung der Frage, was Pazifismus angesichts der aktuellen Weltlage noch bedeuten kann. Inmitten der beißreflexhaften medialen Debatte über den Krieg macht „Studio Komplex“ seinem Namen alle Ehre und zollt der Komplexität der Haltungen zum Krieg Tribut.
„Studio Komplex“, von Ahlf im Wechsel mit Anne-Katrin Eutin präsentiert, ist journalistisch wie auditiv ein echter Zugewinn im breiten Portfolio der Zeitgeschehen-Podcasts für die junge Zielgruppe. Die Nähe zu „Der Tag“ ist „Studio Komplex“ trotz aller Show-Elemente und der flapsigen Sprache anzumerken. Denn auch Ahlf, Eutin und ihr Team ziehen alle radiofonen dramaturgischen Register und haben Freude am - hier freilich verjüngten - feuilletonistischen Diskurs. Neben tiefsinnigen Interviews mit in der Regel mehreren Gesprächspartnern pro Folge finden sich etwa O-Ton-Collagen, Sketch-Einlagen und hörspielartig inszenierte Gedankenspiele. Das alles wechselt in virtuosem Tempo, atemlos folgen wir den manchmal arg gekünstelt vertonten Gedankenwindungen der Hosts und tauchen sogleich wieder ein in ein nicht ganz voraussetzungsfreies Interview mit einer Expertin, das schon im nächsten Moment von einem Sprecher unterbrochen wird, der gleich einer eingebildeten Stimme im Kopf das Gesagte hinterfragt.
„Studio Komplex“ stellt zu Beginn jeder Folge eine gerne steile These auf und leuchtet diese dann grell von allen Seiten aus, oft bis zur genüsslich zelebrierten Dekonstruktion. Wäre es nicht demokratischer, Wahlen abzuschaffen und komplett durch Losverfahren zu ersetzen? Sind die skandinavischen Länder wirklich Vorbild für alles und jedes? War es nicht toll, dass die WM in Katar einmal Menschenrechte auf die Agenda gesetzt hat?
Vor drastischer Überzeichnung scheut das HR-Team nicht zurück, etwa wenn die Überlegungen zur Los-Demokratie immer wieder mit Howard Shores „Herr der Ringe“-Soundtrack unterlegt werden und Ahlf schließlich enttäuscht feststellen muss, dass er doch nicht wie Frodo gemeinsam mit seinem Sam (hier: der Politikwissenschaftler Hubertus Buchstein) das Wahlsystem in den Feuern des Schicksalsbergs versenken kann.
Das alles darf man schrecklich albern finden, und in der Tat sind nicht alle Ausgaben gelungen. Die Folge zur WM in Katar zum Beispiel gefällt sich zu sehr darin, die deutsche Debatte über das Turnier als selbstgerecht und heuchlerisch zu entlarven. Bewundernswert bleibt, wie das HR-Team Radiofeuilleton, Podcast und Late-Night-Show zu einem Format vereint, das bei allem Klamauk journalistischen Tiefgang hat. Die Verjüngungsinitiative der ARD, für die allen voran HR-Intendant Florian Hager steht, sollte „Studio Komplex“ im Ohr behalten.
Aus epd medien 9/23 vom 3. März 2023