VOR-SICHT: „Sam - Ein Sachse“, siebenteilige Serie, Regie: Soleen Yusef, Sarah Blaßkiewitz, Buch: Jörg Winger, Chris Silber, Tyron Ricketts, Malina Nwabuonwor, Toks Körner, Soleen Yusef, Carolin Würfel, Kamera: Stephan Burchardt, Max Preiss, Produktion: Big Window Productions, Panthertainment (Disney+, ab 26.4.23)
epd „Diese Serie basiert auf der wahren Geschichte von Samuel Meffire. Sie erhebt jedoch nicht den Anspruch, die Geschehnisse in jeder Hinsicht authentisch wiederzugeben.“ Die beiden Sätze sind den Folgen des Siebenteilers „Sam - Ein Sachse“ vorangestellt - und es genügt eine kurze Internetrecherche, um festzustellen, was schon mal nicht authentisch ist: Der echte Samuel Meffire, der heute als Schriftsteller und Trainer für Gefahrenlagen in Bonn lebt, wurde erst lange nach den hier geschilderten Ereignissen Vater zweier Töchter. Dass er, der 1970 als Sohn eines Kameruners und einer Deutschen in der DDR geboren wurde und nach der Wende als erster afrodeutscher Polizist Ostdeutschlands Bekanntheit erlangte, in der Serie bereits 1989 Vater eines Sohnes wird, ist also offenkundig eine dramaturgische Zuspitzung des Writers' Rooms.
Sie ermöglicht nicht nur eine effektvolle Eröffnungssequenz, in der Sam (Malick Bauer) im Dresden jenes Jahres dem Krankenwagen hinterherrennt, der seine kurz vor der Entbindung stehende Freundin Antje (Luise von Finckh) ins Krankenhaus fährt, ihn aber nicht mitnehmen wollte. Sie liefert auch eine schlüssige Erklärung für die folgenden Wendungen: Als der rennende Sam von der Polizei angehalten wird und sich nicht ausweisen kann, gibt es wider Erwarten keinen Ärger. Stattdessen fahren ihn die Ordnungshüter, beeindruckt von seiner Geschichte, mit Blaulicht in das Hospital. Unterwegs fragt ihn der Vopo-Major Schreier (Thorsten Merten) nicht nur nach seiner Bestzeit über 100 Meter, sondern macht ihm gleich noch einen Vorschlag: „Schon mal drüber nachgedacht, bei uns anzufangen?“
Wenn in der Folge zu sehen ist, wie Sam, der eigentlich Fußballer werden will und mit seiner Freundin in einem regimekritischen Künstlermilieu lebt, immer wieder Rassismus und Diskriminierung erfährt und einmal gar halb totgeprügelt wird, erscheint es absolut plausibel, dass er sich an diese rare Hilfe und das freundliche Angebot erinnert. Zum Entsetzen seines Umfelds macht er ernst und nimmt an der zweitägigen Aufnahmeprüfung für die Bereitschaftspolizei teil - der härtesten „in der gesamten Republik“, wie Schreier stolz verkündet. Sportass Sam besteht, und siehe da: Mit Uniform wird der „Genosse Anwärter“ auf der Straße und im Amt mit mehr Respekt behandelt.
Der Major wird für Sam, dessen eigener Vater am Tag seiner Geburt unter dubiosen Umständen starb, zum väterlichen Mentor. Einfach nur tragisch ist es aus Sams Perspektive, dass ausgerechnet jetzt die Mauer fällt und seine mühsam erlangte Struktur direkt wieder wegbricht: Während die Massen feiern, erhängt sich der Major in seinem Dienstzimmer.
„Sam - Ein Sachse“, die erste deutsche Serienproduktion des US-Streaminganbieters Disney+, ist natürlich auch ein Wende-Movie. Aber erfreulich knapp sind die eingewobenen historischen Super-8-Szenen gehalten, die Showrunner um Darsteller, Autor und Co-Produzent Tyron Ricketts verlieren sich nicht in schon Durchexerziertem. Vielmehr zeigen sie die Ereignisse aus afrodeutscher Perspektive und setzen die rechte Gewalt in Szene, die sich bereits in die „Wir sind das Volk“-Rufe und später in den Einheitsjubel mischt. Wer Peter Richters autobiografischen Roman „89/90“ über den letzten Sommer des Sozialismus in Dresden gelesen hat, weiß, dass sie hier nicht übertrieben haben.
Noch etwas überhöht haben sie dagegen die ohnehin schon unglaubliche Geschichte des Samuel Meffire: zum überlebensgroßen Epos von Aufstieg und Fall mit anschließender Läuterung und Selbstfindung. Getragen wird diese Erzählung vom sensationell physischen Hauptdarsteller Malick Bauer, für den, wenn es in der Fernsehwelt gerecht zugeht, die Rolle den Durchbruch bedeuten dürfte.
Nachdem ihm in Folge drei - im Juli 1990 - rechte Schläger im Lebensmittelladen aufgelauert und ihn mit schwarz-rot-goldenen Baseballschlägern wiederum halb totgeschlagen haben, wird er von einer schwarzen Gang um Anführer Alex (Tyron Ricketts) gerettet. Die Männer geben sich als Beschützer einer „kleinen Insel“ zu erkennen: Sie bewachen die Tür der Diskothek Palm Beach und halten diese nazifrei. Hier findet Sam, inzwischen von Freundin Antje getrennt, eine neue Familie - und in Yvonne (Svenja Jung) alsbald auch eine neue Freundin. Seine Polizeikarriere indes nimmt eine weitere kuriose Wendung: Weil der sächsische Innenminister „substanzielle Maßnahmen“ zur Eindämmung rechter Gewalt ergreifen will und er den von Yvonne in eine Imagekampagne vermittelten Sam auf einem Plakat mit der Aufschrift „Ein Sachse“ gesehen hat, lädt er den jungen Ordnungshüter zu sich ein und macht ihn zum Anführer der „Soko Rex“.
Klassischer Dramaturgie folgend, wird in Folge vier der Höhepunkt des Aufstiegs erreicht: Da sitzt Sam mit dem Innenminister - Martin Brambach als Heinz Eggert - in Talkshows und wird als Protagonist der besten Kampagne des Jahres 1991 ausgezeichnet. Aber auch der Keim des Übels ist schon zu erkennen: Immer öfter verliert er beim Verhören oder Verfolgen von Neonazis die Kontrolle, er vergisst den Geburtstag seines Sohns, versetzt Freunde. Als in Episode fünf („Schall und Rauch“) nach den Ausschreitungen von Hoyerswerda nicht konsequent gegen die Täter vorgegangen wird und sich die nächste Vaterfigur - der Minister - als Enttäuschung erweist, knallt er der Polizeipräsidentin die Dienstmarke auf den Tisch: „Ich hab keinen Bock mehr auf eure Kompromisse.“
Die Gründung einer privaten Sicherheitsfirma (Folge sechs, „Robin Hood“) führt dann richtig ins Verderben: Weil das Geschäft nicht in Gang kommt, lässt sich Sam mit einer Rotlichtgröße ein, räumt für diese unter anderem gewaltsam ein Bordell und wird schließlich sogar als Mordverdächtiger gesucht. Seine zwischenzeitliche Flucht nach Kinshasa steht ebenfalls unter keinem guten Stern. Zurück in Deutschland, wird er wegen Raubüberfällen und schwerer Körperverletzung zu neun Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt, von denen er sieben absitzt. Zu seiner Läuterung und Selbstfindung hinter Knastmauern tragen auch die Literatur und das Schreiben bei, insbesondere die Werke der Autorin May Ayim („blues in schwarz weiss“) spielen dabei eine Rolle.
Das ist eine weitere Stärke der Serie: Im Hinblick auf afrodeutsche Identitätssuche sowie das Kenntlichmachen von subtilen Formen des Rassismus strahlt sie höchste Kompetenz und Glaubwürdigkeit aus. Das spiegelt sich auch im exquisiten Soundtrack wider, der von Rio Reiser („Zauberland“) bis Roger Rekless mit Heliocopta („Keine Diskussion“) reicht und zu dem Joy Denalane einen Gastauftritt beisteuert („Zuhause“). Keine Frage: Hier wollten alle Gewerke wirklich was. Geht schon in Ordnung mit der leichten Überhöhung.
Aus epd medien 16/23 vom 21. April 2023