Tristesse an der Reeperbahn

VOR-SICHT: „Luden - Könige der Reeperbahn“, sechsteilige Serie, Regie: Laura Lackmann, Istvan alias Stefan Lukacs, Buch: Niklas Hoffmann, Peter Kocyla, Rafael Parente (Headautoren), Kamera: Tim Kuhn, Produktion: Neuesuper (Amazon Prime Video, ab 3.3.2023 )

epd Dass die Faszination des Hamburger Rotlichtviertels St. Pauli ungebrochen ist, lässt sich allein schon an der Vielzahl von Dokumentationen ablesen, die dem Quartier nach wie vor gewidmet werden: Arte zeigte im April 2022 den Dreiteiler „Die Paten von St. Pauli“ (Kritik in epd 17/22), der NDR legte im Oktober mit der fünfteiligen True-Crime-Serie „Reeperbahn Spezialeinheit FD 65“ nach (Kritik in epd 46/22), die noch in der ARD-Mediathek verfügbar ist, und der SWR brachte Anfang dieses Jahres die ebenfalls fünfteilige Chronik „Neonstaub“ heraus, die ebenfalls noch bis 10. April in der ARD-Mediathek abgerufen werden kann.

Kein Wunder also, dass jetzt auch der Streaminganbieter Amazon Prime Video den Mythos der sündigen Meile als - fiktionalen - Serienstoff entdeckt hat. Zumal der Name Reeperbahn ja nicht nur deutschlandweit, sondern auch international seinen Klang entfaltet.

Umso bemerkenswerter ist dann allerdings, wie die sechsteilige Produktion „Luden“ daherkommt: nicht etwa als glitzernde Guilty-Pleasure-Parade, die den Reiz des Verruchten voyeuristisch ausbeutet, sondern als hartes, dunkles Sittengemälde mit viel menschlichem Leid, Gewalt, Ekel und Körpersäften.

Inspiriert von wahren Begebenheiten, blendet die Handlung zurück in die späten 1970er, frühen 1980er Jahre und schildert den damaligen Konkurrenzkampf zweier Zuhältervereinigungen: der etablierten „GMBH“ und der aufstrebenden „Nutella-Bande“ des Emporkömmlings Klaus Barkowsky (Aaron Hilmer), genannt „der schöne Klaus“ oder „Lamborghini-Klaus“. Ein dramaturgischer Coup der Headautoren Niklas Hoffmann, Peter Kocyla und Rafael Parente ist es, dass sie die Ereignisse nicht aus seiner Sicht, sondern aus der der erfahrenen Prostituierten Jutta (Jeanette Hain) erzählen und aus dem Off kommentieren lassen.

Die beiden lernen sich vor dem Klospiegel einer erbärmlichen Spelunke kennen, wo er ihr beim Auftragen der „Kriegsbemalung“, also Wimperntusche, hilft, weil er merkt, dass sie selbst dazu kaum noch in der Lage ist. „Bist ’n komischer Vogel“, sagt sie. „Ich bin Klaus Barkowsky, den Namen kannste dir merken“, sagt er. Als der naive Habenichts ihr dann auch noch vom New Yorker Studio 54 vorschwärmt und seine eigenen Visionen umreißt („Ich will alles. Ganz nach oben, erste Klasse Jumbojet!“), erkennt die nicht mehr ganz junge Jutta seinen Ehrgeiz - und die Chance, sich einen Beschützer aufzubauen, der weniger brutal ist als ihr derzeitiger Zuhälter Beatle (Karsten Antonio Mielke). Klaus wiederum beginnt im Luden-Dasein einen Weg zu sehen, der ihm schneller Geld und Respekt verschaffen könnte als seine künstlerischen Ambitionen.

Mit seinen Jugendfreunden Andi (Henning Flüsloh), einem latent aggressiven Fischfabrikarbeiter und Hobbyboxer, und Bernd (Noah Tinwa), einem farbigen Transsexuellen, der sich insgeheim zur Frau umoperieren lassen möchte, gründet er die „Nutella-Bande“. Und mit Hilfe des Oberpaten und „Chikago“-Clubbetreibers Wilfrid „Frida“ Schulz (Nicki von Tempelhoff) gelingt es den Neulingen tatsächlich, eine Etage im berühmt-berüchtigten Eroscenter zu übernehmen und der „GMBH“ ihr Terrain streitig zu machen - zumindest, bis das Aufkommen von Aids die Freier verschreckt und das Geschäft mit dem käuflichen Sex in die Krise stürzt.

Während der „Catweazle“-Look und der breite Hamburger Slang des schönen Klaus („Karodde, ich hab was für dich!“) immer wieder für komische Momente sorgen, dominieren insgesamt aber doch Tristesse und Tragik das von Laura Lackmann und Stefan Lukacs homogen inszenierte Geschehen. Dafür sorgt eine Nebenhandlung um die junge Heimausreißerin Manu (Lena Urzendowsky), die auf dem Kiez nach ihrer Mutter sucht und zunächst als Tresenkraft im „Flamingo“ unterkommt. Kameramann Tim Kuhn zeigt St. Pauli in düsteren Bildern. Bemerkenswert ist auch die feine, finstere Musikauswahl, zu der beispielsweise „Der Mussolini“ von DAF sowie Songs von Joy Division, Fehlfarben und den Dead Kennedys gehören.

Schwer zu sagen, ob der Retrotrip ins St. Pauli des vergangenen Jahrhunderts mit seinen Koberern und Poussierern und überkommenen Statussymbolen das heutige „4 Blocks“-, „Asbest“- oder „Die Discounter“-Publikum gewinnen wird. In jedem Fall aber ist den Showrunnern ein bei aller Melancholie auch liebevolles Sittengemälde gelungen, das nichts mit Seifenopern wie Dieter Wedels Sat.1-Mehrteiler „Der König von St. Pauli“ von 1998 zu tun hat. Vielmehr zeigt „Luden“ den Hamburger Kiez als frühen Melting Pot Westdeutschlands, als Sammelbecken für Tagträumer und Nonkonformisten, als Bastion gegen die „Soliden“.

Besonders deutlich wird diese Rolle des Quartiers innerhalb der hanseatischen Stadtgesellschaft, als die „Nutella-Bande“ eine Expansion in die Eimsbütteler Osterstraße wagt und dort bald von der Polizei hochgenommen wird. „Ihr seid unser Zoo“, erklärt der Staatsanwalt da kühl den Luden und den Huren, „bleibt in euerm Gehege!“

Aus epd medien 9/23 vom 3. März 2023

Peter Luley