Nervenstarke Dirigentin

VOR-SICHT: „Sonderlage - Ein Hamburg-Krimi“, Regie: Andreas Senn, Buch: Norbert Eberlein, Kamera: Michal Grabowski, Produktion: Conradfilm, Bavaria Fiction, Teil 1: „Der Angriff“ (RTL, 14.2.23, 20.15-22.15 Uhr), Teil 2: „Das Kind wird sterben“ (RTL, 21.2.23, 20.15-22.15 Uhr)

epd Weil die Sender im Wettstreit um Aufmerksamkeit eingängige Marken brauchen, hat RTL jüngst den „Tödlichen Dienst-Tag“ ausgerufen. Das entbehrt nicht einer gewissen Komik, denn im deutschen Fernsehen ist bekanntlich jeder Wochentag „tödlich“: Kriminalfilme in allen Farben, Formen und Schattierungen dominieren das lineare Programm. Die Idee, dem Überangebot weitere Reihen hinzuzufügen, klingt also eher tödlich langweilig, aber vielleicht geht ja die Rechnung für RTL angesichts der deutschen Krimileidenschaft dennoch auf. Und natürlich sollen sich die beiden Filme aus der Reihe „Sonderlage - Ein Hamburg-Krimi“ auch im Netz bewähren. Sie sind jeweils eine Woche vor der Ausstrahlung als kostenpflichtiges „Premium“-Angebot beim Streamingportal RTL+ abrufbar.

Die Heldin der Reihe ist die nervenstarke Kommissarin Verena Klausen (Henny Reents), Leiterin der Abteilung Organisierte Kriminalität, die einen Kampf an zwei Fronten führt. Denn während Attentäter gerade den Hamburger Hafen mit Bomben lahmlegen oder Entführer das Leben eines achtjährigen Kindes und seines Kindermädchens bedrohen, wird Verena Klausen als Leiterin der „Sonderlagen“ von ihren männlichen Vorgesetzten behindert, provoziert und unter Druck gesetzt. Innensenator, Polizeipräsident und Klausens gleichrangiger Kollege Busskamp (Lasse Myhr) von der Mordkommission warten nur auf Fehler der Kommissarin und torpedieren ihr Vorgehen ungeachtet der Folgen. Es hagelt sexistische Sprüche und offene Drohungen gegen die Frau, die vor zwei Jahren eine Fehlgeburt erlitten hat.

Nichts gegen die Botschaft, dass männliche Seilschaften immer noch den Aufstieg von Frauen verhindern. Allerdings ist das Gut-Böse-Schema so offensichtlich, sind die Figuren und Dialoge derart eindimensional und plakativ angelegt, dass man die Absicht praktisch mit der ersten Einstellung und der ersten Silbe erkennt. Offenbar hält RTL sein Publikum für schwer von Begriff. Der Innensenator ist vornehmlich an seinem Ruf interessiert, der Polizeipräsident hält sowieso nichts von weiblichen Führungskräften und natürlich hat Busskamp weniger drauf als Klausen, hält sich aber für den Größten. Überraschungen sind ausgeschlossen, eine Entwicklung der Figuren ist jedenfalls bis zum Ende des zweiten Films nicht zu erkennen. Es fällt leicht, sich von diesen Typen zu distanzieren, zumal sie ein mindestens so großes Sicherheitsrisiko darstellen wie Bomben legende Drogenhändler und radikalisierte Umweltaktivisten.

Immerhin fliegen der weiblichen Heldin angesichts ihrer bornierten Widersacher die Sympathien des Publikums sofort zu, ohne dass sie etwas Heldenhaftes getan haben müsste. Doch natürlich tut sie auch was: Die meiste Zeit sieht man Henny Reents als eine Art Dirigentin im Lagezentrum vor einem gewaltigen Bildschirm, auf dem Überwachungsvideos abgespielt oder Fotos, Karten und sonstige Dokumente bildfüllend zu sehen sind. Klausen steht mitten in dem Raum voller Schreibtische, an denen Beamtinnen und Beamte aus verschiedenen Abteilungen hocken. Während an der Spitze Politik und persönliche Intrigen zählen, werden Polizeiermittlungen hier in einer diversen Besetzung als Teamarbeit dargestellt, auch wenn Klausen das letzte Wort hat. Dass im Lagezentrum nur reden darf, wer wie früher im Klassenzimmer aufzeigt, ist allerdings etwas befremdlich.

Die Inszenierung von Andreas Senn betont im polizeilichen Kammerspiel bewusst die präzise, professionelle Arbeit, aber eine fiebrige Atmosphäre kommt nur selten auf. So geht es auch nach dem verheerenden Bombenanschlag am Hafen mit Toten und Verletzten allzu routiniert zu - von wegen Ausnahmesituation. Der Fall einer Vergewaltigung einer Frau durch zwei Streifenpolizisten, der die Polizeiführung mehr zu beunruhigen scheint als der Anschlag, gerät aus dem Blickfeld. Für Spannung ist zwar ausreichend gesorgt, aber manches Detail erscheint maximal unglaubwürdig. So läuft der zweite Attentäter dem Scharfschützen der Polizei, kaum dass er das riesige Containerschiff betreten hat, direkt über den Weg.

Der zweite Film behandelt trotz des irreführenden Titels „Das Kind wird sterben“ einen weniger spektakulären Fall, der ebenfalls etwas unausgegoren wirkt. Die Entführer schießen einen Leibwächter des kleinen Sohns des reichen Unternehmers Frederik Thalfort (Moritz Führmann) über den Haufen und wundern sich, dass die Polizei davon erfährt. Besonders absurd: Während einer geplanten Geldübergabe platzt Busskamp ins Lagezentrum und Klausen lässt sich in den Feierabend schicken.

Hauptdarstellerin Henny Reents wird von RTL mit den Worten zitiert, sie träume von „komplexen“ und „ganz normalen“ Frauenfiguren: „Weg von klischeehaften 'starken' Kommissarinnenfiguren, wie man sie viel zu häufig im deutschen Fernsehen erlebt.“ Da wird sie wohl weiter träumen müssen.

Aus epd medien 6/23 vom 10. Februar 2023

Thomas Gehringer